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Diskriminierung: EuGH-Urteil schützt Eltern behinderter Kinder im Job

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Eltern schwerbehinderter Kinder sind bei der Vereinbarung beruflicher und familiärer Pflichten häufig in besonderem Maße beansprucht. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in diesem Zusammenhang nun entschieden, dass Arbeitgeber Rücksicht auf die Belange betroffener Mütter oder Väter nehmen müssen.

Wie die Richterinnen und Richter urteilten, seien Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen in derartigen Fällen bei Bedarf konkret „so anzupassen, dass diese Eltern sich ohne die Gefahr einer mittelbaren Diskriminierung um ihr Kind kümmern können“. Grund: Der Schutz der Rechte behinderter Personen vor indirekter Diskriminierung erstrecke sich auch auf Eltern behinderter Kinder.

Der Fall: Arbeitszeiten erschweren Betreuung

In dem Verfahren ging es um eine Arbeitnehmerin aus Italien, die bei einem Verkehrsunternehmen als Stationsaufsicht für die Überwachung und Kontrolle einer U-Bahn-Station zuständig ist. Feste Arbeitszeiten sieht die Stelle nicht vor. Daher forderte die Mutter eines minderjährigen schwerbehinderten und „vollinvaliden“ Sohns ihren Arbeitnehmer mehrfach auf, sie dauerhaft nur morgens und mit verbindlichen Arbeitszeiten einzusetzen, um den Jungen nachmittags zu einem regelmäßig anstehenden, notwendigen Behandlungsprogramm begleiten zu können. Zwar gewährte das Unternehmen der Frau zwischenzeitlich Erleichterungen im Schichtdienst und beim Arbeitsort. Dennoch blieb die Betreuung offenbar ein stetes Vabanquespiel.

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Deshalb klagte die Beschäftigte im Mai 2019 vor einem Gericht in Rom, um feststellen zu lassen, dass es „diskriminierend ist, dass ihr Arbeitgeber ihrem Antrag auf dauerhafte Umgestaltung ihrer Arbeitsbedingungen nicht entspricht“. Nachdem der Arbeitgeber der Mutter überdies im Oktober 2022 gekündigt hatte und die Sache zwischenzeitlich bis zum höchsten Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit Italiens (Corte Suprema di Cassazione) gegangen war, rief dieses den EuGH an.

Knackpunkt: Mittelbare Diskriminierung am Arbeitsplatz?

Im Kern stand dabei die Frage, ob sich Arbeitnehmer, die sich um ihr schwerbehindertes minderjähriges Kind kümmern müssen, gerichtlich „auf den Schutz vor mittelbarer Diskriminierung wegen einer Behinderung berufen“ können, den eigentlich die behinderte Person selbst genießt. Und das bejahten die Richterinnen und Richter – vor allem mit Verweis auf die europäische Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie (RL 2000/78/EG).

Die nämlich, so die Antwort aus Luxemburg, bestimme, dass das Verbot der mittelbaren Diskriminierung wegen einer Behinderung „auch für einen Arbeitnehmer gilt, der wegen der Unterstützung seines behinderten Kindes diskriminiert wird“. Schließlich sei es ein Ziel der Richtlinie, „in Beschäftigung und Beruf jede Form der Diskriminierung wegen einer Behinderung zu bekämpfen“. Entsprechend müssten berufstätige Eltern schwerbehinderter Kinder im Arbeitsleben auch vor unzulässiger unmittelbarer „Mitdiskriminierung“ geschützt werden, so der EuGH mit Verweis auf eines seiner früheren Urteile (Rs. C-303/06).

EuGH: Entgegenkommen hat Grenzen

Die Pflicht von Arbeitgebern, Beschäftigten in derlei Fällen bei der Gestaltung der Arbeitsbedingungen entgegenzukommen, ist laut der Entscheidung allerdings nicht grenzenlos: Zwar seien Unternehmen, „um die Gleichbehandlung der Arbeitnehmer zu gewährleisten, verpflichtet, angemessene Vorkehrungen zu treffen, damit Arbeitnehmer ihren behinderten Kindern die erforderliche Unterstützung zukommen lassen können“. Das gelte aber nur, „sofern dadurch der Arbeitgeber nicht unverhältnismäßig belastet wird“.

Als Maßstab dienen dabei unter anderem der mit etwaigen Maßnahmen „verbundene finanzielle Aufwand sowie die Größe und die finanziellen Ressourcen der Organisation oder des Unternehmens“. Zudem setzte eine etwaige Ver- oder Umsetzung „voraus, dass es zumindest eine freie Stelle gibt, die der betreffende Arbeitnehmer einnehmen kann“. Ob das hier der Fall ist, muss den Angaben zufolge nun erneut ein italienisches Gericht prüfen.

Für Deutschland hat die Entscheidung gleichwohl Bedeutung, da EuGH-Urteile einer verbindlichen Auslegung des EU-Rechts gleichkommen und insofern Bedingungswirkung für Gerichte und Behörden in den Einzelstaaten entfalten. Gleiches gilt für Personalabteilungen und Betriebsräte.

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Reaktionen: Urteil schließt „eine Lücke“

Aus Sicht von Personalberaterin Anna Lauber schließt das Urteil „eine Lücke“. Bislang sei in vielen Fällen unklar gewesen, ob das Diskriminierungsverbot auch Angehörige schütze, schreibt sie auf der Plattform LinkedIn.  Nun aber werde „Pflegearbeit klar als gesellschaftlich relevante Verantwortung“ anerkannt. Ihr Tipp an HR: Arbeitgeber sollten „Arbeitszeitmodelle prüfen“ und hätten so die „Chance, familienfreundlicher und inklusiver zu werden“.

Dr. Christoph Roos, Fachanwalt für Arbeitsrecht, geht in seiner Einschätzung noch weiter und sieht die Entscheidung in einem Blogbeitrag als „wegweisend“ für Arbeitnehmer an, die behinderte Kinder zu versorgen haben. Denn die hätten „künftig einen klar geregelten Anspruch auf Anpassungen ihrer Arbeitsbedingungen“.

Auch der Bundesverband wir pflegen e.V. begrüßt das Votum: Eltern von Kindern mit Behinderungen würden damit „in ihrer besonderen Situation gesehen und in ihren Rechten gestärkt“. Das wiederum bestätigte eine „richtige und wichtige Denkweise“, da „informelle Pflegeverantwortung (…) nicht zur beruflichen Benachteiligung führen“ dürfe.

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Frank Strankmann ist Redakteur und schreibt off- und online. Seine Schwerpunkte sind die Themen Arbeitsrecht, Mitbestimmung sowie Regulatorik. Er betreut zudem verantwortlich weitere Projekte von Medienmarken der F.A.Z. Business Media GmbH.