Personalwirtschaft: Herr Syska, Sie sagen, dass es eigentlich keinen Fachkräftemangel gibt, sondern ein Problem mit schlechten Systemen. Wie meinen Sie das?
Andreas Syska: Die Ursachen für den Fachkräftemangel sind vor allem schlechte Arbeitssysteme, in denen unter anderem das Zusammenspiel von Mensch, Betriebsmittel und Information ineffizient und ineffektiv ist. Der oft zitierte demografische Wandel ist deshalb nicht der Hauptgrund für den Fachkräftemangel. Derzeit werden menschliche Arbeitskräfte vergeudet, und zwar für Aufgaben, die umständliche Systeme selbst erzeugt haben aber die eigentlich nicht nötig sind. Viele Angestellte leisten in dem Sinne derzeit keine wirkliche Arbeit mit Mehrwert.
Was genau meinen Sie damit?
Arbeit ist das, wofür es eine externe Referenz gibt, das heißt, wofür ein Kunde von sich aus bereit ist, etwas zu zahlen. Laut dieser Definition zählen Tätigkeiten wie Koordination, Administration, Auditierung, Zertifizierung und Beratung nicht als Arbeit. Und dennoch gehen immer mehr Menschen diesen Tätigkeiten nach. Sie arbeiten nicht, sondern sagen anderen Menschen, wie sie zu arbeiten haben.
Können Sie hierfür Beispiele nennen?
Ein Handwerksmeister erzählte mir, dass zwei von drei Mitarbeitern seines Betriebs dazu da seien, Dokumente auszufüllen, die der Staat haben möchte. Seien es Arbeitssicherheitsreportings oder Genehmigungen. Ein Automobilbankmanager sagte mir kürzlich, dass 15 Prozent der Kapazität seines Unternehmens dafür aufgewandt wird, der BaFin (Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, d. Red.) Zahlen zusammenzutragen.
Warum gibt es diese Jobs dann?
Weil Vorgaben vom Staat oder zu komplizierte Prozesse diese Jobprofile nötig machen. Wir erhalten vom Staat immer mehr Vorschriften, die dazu dienen, Risiken zu vermeiden, aber mit zahlreichen Überprüfungen und Dokumentationen einhergehen. Das sorgt übrigens nicht nur für Mehrarbeit, sondern auch dafür, dass einzelne Mitarbeiter oder auch Unternehmen an sich nicht mehr die Verantwortung für mögliche Konsequenzen der eigentlichen Arbeit tragen.
Helfen diese aber nicht auch dabei, dass wertschöpfende Arbeit bestmöglich bewerkstelligt werden kann?
Nur temporär. In meiner Rolle als Berater zähle ich auch zu den Menschen, die an sich keine wertschöpfende Arbeit leisten. Wir stemmen aber einen Großteil des Initialaufwands, den es benötigt, um Prozesse zu durchleuchten und dann zu verbessern. Danach sollten Mitarbeiter aber im besten Fall eigenständig Prozesse nutzen und optimieren können.
Ihrer Meinung nach sollen Fachkräfte, die dokumentieren, organisieren und überprüfen, also für „richtige Arbeit“ eingesetzt werden. Woher wissen Unternehmen aber, an welchen Stellen sie arbeiten sollen?
Sie müssen sich die Arbeitsprozesse genau anschauen. Unternehmen können auf Prozessbeobachtungsinstrumente von Produktionsingenieuren zurückgreifen – beispielsweise auf Verschwendungsanalysen und Wertstromdarstellungen. Damit können sie schnell die neuralgischen Punkte identifizieren, die den Prozess unruhig machen. So wird auch klar, an welchen Stellen Leute fehlen.
Je nach Profession ist es nicht immer leicht, einen Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin einfach so auf eine neue Position zu setzen. Oftmals müssen sie zunächst weitergebildet werden.
Man kann natürlich nicht jede Fachkraft an jede Stelle im Unternehmen setzen. Dafür sind teilweise Weiterbildungen nötig. Wobei es oftmals nicht so ist, dass ein Teil der Mitarbeiter nur wertschöpfend tätig ist und ein anderer nur administrativ. Diese Ausprägungen der Arbeit finden sich im Arbeitstag von vielen Personen. Es geht darum, diese Personen von Unsinnigem zu befreien und damit Platz für Sinnvolles zu schaffen. Die Frage der Ausbildung stellt sich oftmals gar nicht.
Können Unternehmen überhaupt etwas tun, damit Mitarbeitende von denen von Ihnen als überflüssig bezeichneten Tätigkeiten loskommen? Schließlich müssen sie den genannten staatlichen Vorgaben nachkommen.
Das stimmt. Und trotzdem tragen sie eine Verantwortung dafür, dass es schlechte Prozesse bei ihnen gibt. In manchen Krankenhäusern beispielsweise sind Bestellprozesse ausufernd. Lassen Sie mich das skizzieren: Wenn Verbandsmaterial bestellt wird, muss eine Pflegekraft dies in einem Katalog vermerken. Mehrere Tage später wandelt eine andere Arbeitskraft diese Markierung in Bestellzettel um. Wieder jemand anderes schreibt diese Bestellung nachher auf und dann wird sie versandt. Das tun die Mitarbeiter alles, anstatt sich um die Patienten zu kümmern. Das Beispiel ist auch stellvertretend für schlechte Systeme in anderen Branchen zu sehen und zeigt: Wir haben die Ressourcen, wir vergeuden sie nur. Es sind meist die kleinen Dinge, die ein System bereits effizienter werden lassen und den in ihnen agierenden Menschen erlauben, mehr Leistung zu erbringen.
Angenommen, Politik und Unternehmen wählen andere Wege, um den Fachkräftemangel zu bewältigen und rühren bestehende schlechte Systeme nicht an. Was wird dann Ihrer Meinung nach geschehen?
Natürlich können Unternehmen noch mehr Arbeitskräfte irgendwo herbekommen, das System bleibt allerdings weiterhin schlecht und ineffizient. Es wird irgendwann wieder an seine Grenzen stoßen und sie werden erneut zusätzliches Personal brauchen. Oder sie werden bestehende Mitarbeiter länger arbeiten lassen müssen, obwohl diese das gar nicht möchten.
Info
Andreas Syska ist Professor der Betriebswirtschaftslehrer an der Hochschule Niederrhein mit den Schwerpunkten Produktionswirtschaft, Kostenrechnung und Unternehmensplanung und -kontrolle. Er ist zudem als Berater und Speaker tätig.
Lena Onderka ist redaktionell verantwortlich für den Bereich Employee Experience & Retention – wozu zum Beispiel auch die Themen BGM und Mitarbeiterbefragung gehören. Auch Themen aus den Bereichen Recruiting, Employer Branding und Diversity betreut sie. Zudem ist sie redaktionelle Ansprechpartnerin für den Deutschen Human Resources Summit.