Mit dem demografischen Wandel ist es ein bisschen so wie mit Weihnachten, sagt Annina Hering. „Eigentlich wusste man schon lange, was auf uns zukommt. Und doch ist man überrascht, wenn es soweit ist.“ Hering arbeitet als Economist, also Wirtschaftswissenschaftlerin, bei der Jobbörse Indeed. Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus anderen Ländern und aus dem Schwesterunternehmen Glassdoor hat die Wirtschaftswissenschaftlerin nun einen Report vorgelegt, der die drohenden Personalengpässe in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, den USA, Kanada und Japan untersucht – und mögliche Lösungswege aufzeigt. Denn auch wenn es, wie Hering sagt, „nicht fünf vor Zwölf, sondern zwei vor Zwölf“ ist, hat sie noch Hoffnung, dass Deutschland die Kurve bekommt. „Schließlich stehen wir noch vor Zwölf.“
Dabei steht die Bundesrepublik im Vergleich zu anderen Industrieländern schlecht da. Selbst Japan mit seiner noch einmal älteren Bevölkerung als der deutschen falle es leichter, Arbeitskräftelücken zu füllen, etwa durch gesteuerte Zuwanderung. Jene ist laut Hering einer der größten Hebel, um den Fachkräftemangel zu bewältigen. „Hier hat sich auch in Deutschland etwas gebessert, insbesondere für Fachkräfte von innerhalb der EU“, sagt Hering. Doch für Menschen, die aus Drittstaaten kommen und hierzulande arbeiten wollen, gebe es noch immer zu viele Hürden. Gegen die Sprachbarrieren, die in englischsprachigen Ländern wie Großbritannien und den USA niedriger sind, lässt sich nur wenig tun – wobei Unternehmen hier in vielen Fällen großzügiger bei den Anforderungen an potenzielle Mitarbeitende sein könnten. Hering sieht allerdings vor allem bürokratische Hürden für Neuankömmlinge, die die Arbeit in anderen Ländern im Vergleich attraktiver macht.
Gehalt und Benefits sind beide wichtig
Für den Report haben Hering und ihre Kolleginnen und Kollegen neben den Such- und Klickdaten von Nutzerinnen und Nutzern sowie den Stellenanzeigen auf Indeed auch Arbeitgeberbewertungen auf Glassdoor herangezogen, um sowohl Arbeitgeber- als auch Arbeitnehmerperspektiven festzustellen. Dabei haben sie etwa herausgefunden, dass Gehalt zwar nach wie vor ein wichtiger Faktor ist, bei der Auswahl des Arbeitgebers aber auch Benefits eine immer größere Rolle spielen. Das gelte umso mehr für finanzielle Benefits wie ein Zuschuss zum Mittagessen oder kostenlose Verpflegung. „Gerade in Zeiten der Inflation und vor allem im Niedriglohnsektor beobachten wir, dass so etwas häufiger angeboten, aber auch häufiger positiv erwähnt wird“, sagt Hering.
Ein ähnliches Gewicht habe – zumindest in den Berufen, in denen es möglich ist – das Thema Homeoffice. Deutschland sei hier zwar im Vergleich zu den anderen untersuchten Ländern führend. „Aber auch hierzulande sind wir noch weit davon entfernt, dass Homeoffice Normalität ist“, sagt Hering. Viele Arbeitgeber setzten immer noch – oder wieder – auf eine Präsenzkultur. Wobei sich dies ihrer Beobachtung nach ändern dürfte. „Dass Deutschland hier führend ist, dürfte daran liegen, dass der Fachkräftemangel hierzulande schon besonders schlimm ist und die Recruiting-Abteilungen das Thema wohl oder übel als Benefit entdeckt haben.“
Diversity als Hebel gegen den Fachkräftemangel
Ein weiterer Aspekt, den der Report identifiziert, ist das Thema Diversity. Durch eine bewusste Ausweitung des Mitarbeitendenpotenzials können Stellen leichter besetzt werden .Und: „Gerade jüngere Menschen treiben das Thema auch in dem Sinne, dass sie in nicht-diversen Unternehmen nicht arbeiten wollen“, sagt Hering. Das gelte umso mehr für Menschen, die selbst schon Diskriminierungserfahrung gemacht haben.
Diversity-Förderung muss laut der Wirtschaftswissenschaftlerin in vielen Unternehmen noch mehr angegangen werden. Zum einen beim Thema Altersdiskriminierung, zum anderen aber auch bei der Förderung der Berufstätigkeit von Frauen gebe es noch Nachholbedarf. „Und das wiederum hängt an ganz vielen Dingen wie etwa der Betreuungssituation in Kindergärten.“
Der Weg aus der Fachkräftemisere wird also „lang und steinig“, wie Hering sagt. Sie bleibe aber optimistisch. Schließlich wurden und werden an vielen Stellen Schritte in die richtige Richtung gemacht. Auch wenn jede einzelne Maßnahme komplex und schwierig scheint, das Ziel ist laut der Indeed-Wissenschaftlerin klar: „Wir brauchen eine Laborforce, die aktiv auf dem Arbeitsmarkt ist.“
Matthias Schmidt-Stein koordiniert als Chef vom Dienst die Onlineaktivitäten der Personalwirtschaft und leitet die Onlineredaktion. Thematisch beschäftigt er sich insbesondere mit dem Berufsbild HR und Karrieren in der Personalabteilung sowie mit Personalberatungen. Auch zu Vergütungsthemen schreibt und recherchiert er.