Es hängt mal wieder an ihnen, zumindest in wesentlichen Teilen. Wenn in der deutschen Fach- und Arbeitskräftediskussion von „inländischen Personalreserven“ die Rede ist, geht es um Erwerbslose und Auszubildende, verstärkt um ältere Menschen – und vor allem um Frauen. Denn deren Erwerbsquote (Anteil erwerbstätiger oder arbeitsuchender Frauen zwischen 15 und 65 an der weiblichen Bevölkerung gleichen Alters) ist nach Daten des Statistischem Bundesamts (Destatis) im 21. Jahrhundert zwar nahezu konstant gestiegen, auf 74,6 Prozent im Jahr 2021. Das ist der fünfthöchste Wert in der EU und liegt weit über dem Durchschnitt aller Mitgliedsländer. Dennoch ist es immer noch signifikant weniger als der Vergleichswert für Männer von 82,7 Prozent.
Hinzu kommt: Seit 2016 hat sich der Abstand zwischen den beiden Geschlechtern nicht mehr verringert. Und generell variiert die Erwerbsquote bei Frauen je nach Teilgruppe deutlich. So steigt der in jüngeren Jahren relativ geringe Unterschied zu Männern ab einem Alter von 30 Jahren an, weil viele Frauen in dieser Lebensphase Mütter werden. Und wo Frauen mit deutschem Pass überdurchschnittlich oft – im Alter zwischen 40 und 49 beispielsweise zu 90 Prozent – eine Beschäftigung suchen oder ihr nachgehen, liegen die Anteile für Ausländerinnen je nach Altersgruppe um bis zu 20 Prozent niedriger. Das hat das Institut für Arbeit und Beschäftigung (IAB) errechnet.
Frauen fehlen überall
Es ist also ein bisschen wie beim Gender-Pay-Gap oder beim Thema Frauen im Topmanagement: Es gibt allmähliche Fortschritte, aber der strukturelle Unterschied zwischen den Geschlechtern besteht fort. Er geht primär auf Kosten der Betroffenen – spätestens, wenn es um die finanzielle Absicherung im Alter geht –, aber nicht nur. Die Aufmerksamkeit von Unternehmen für das Thema steigt in dem Maß, in dem der demografische Wandel spürbar wird: Wo die Babyboomer ins Rentenalter eintreten, sinkt das Arbeitskräfteangebot.
Und Frauen fehlen nicht nur als potenzielle Fach-, sondern auch als Führungskräfte; als formal gering qualifizierte „Helferinnen“ im Sinne der Bundesagentur für Arbeit wie als akademisch gebildete Expertinnen. Sie werden nicht nur da sehr vermisst, wo sie traditionell überrepräsentiert sind (Pflege- und soziale Berufe, Erziehung et cetera), sondern auch da, wo bisher Männer dominieren (MINT-Berufe, Handwerk). Tatsächlich hat das Kompetenzzentrum Fachkräfte (KOFA) am Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) gerade gemessen, dass der Fachkräftemangel in Deutschland in jenen Berufen und Branchen am größten ist, in denen besonders viele oder besonders wenige Frauen arbeiten.
Höchste Zeit, etwas zu tun, meint man nicht nur beim KOFA. Anfang August, kurz bevor das IAB für das kriegskrisengeprägte zweite Quartal 2022 einen Rekordwert von 1,93 Millionen offenen Stellen in Deutschland vermeldete, erhob die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA) in einem Positionspapier „Zehn Kernforderungen für einen Arbeitsmarkt mit gleichen Chancen für Frauen und Männer“. Und ein paar Tage später überschrieb Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), seine Kolumne für das Onlineportal von „Die Zeit“:
„Das größte Potenzial auf dem Arbeitsmarkt sind die Frauen“.
Die Erwerbsquote ist nicht das Hauptproblem
Freilich liegt dieses Potenzial nicht nur und vielleicht nicht einmal zum größten Teil in der Erwerbsquote. Zwar geht das IAB tendenziell von einer weiter steigenden Erwerbsbeteiligung von Frauen aus, aber angesichts der erreichten Größenordnungen (bis zu 90 Prozent) ist der Spielraum nach oben mittlerweile begrenzt.
Umso wichtiger wäre es (nicht nur) aus Sicht der Wirtschaft, die konstant hohe, im vergangenen Jahrzehnt sogar gestiegene Teilzeitquote unter weiblichen Beschäftigten zu senken. Sie lag 2019 nach Destatis-Zahlen etwas unter, laut IAB sogar deutlich über 50 Prozent. Das ist etwa viermal so hoch wie bei Männern in Deutschland und EU-intern der zweithöchste Wert hinter den Niederlanden. Mütter im Speziellen arbeiteten 2020 laut Destatis zu 66 Prozent in Teilzeit (2010: 64 Prozent), Väter nur zu 7 Prozent (2010: 5 Prozent). Unter dem Strich stellten Frauen laut IAB-Messungen im Jahr 2019 zwar 47,5 Prozent der Erwerbstätigen in Deutschland, repräsentierten aber lediglich 40,3 Prozent des gesamten Arbeitsvolumens.
Familienfreundlichkeit tut Not
Das zu ändern, verlangt strukturelle Umstellung auf allen Ebenen. Zunächst auf informeller, gesellschaftlicher. Denn letztlich geht es um tradierte Rollenbilder, die „bereits von den Jüngsten verinnerlicht werden“, wie es im Positionspapier des BDA heißt. Männer müssten sich familiär stärker einbringen, als es viele immer noch tun; Frauen müssten länger arbeiten wollen, als sie es Umfragen zufolge aktuell bereit sind. Alle, mithin das ganze System, müsste die für sein Funktionieren so hochrelevanten Berufe in der Kranken- und Altenpflege oder der Erziehung aufwerten.
Die (meist männlich geprägten) Topmanagements ihrerseits wären gefordert, sich zahlreicher und entschlossener zu Frauen- respektive Familienfreundlichkeit zu bekennen. Annina Hering etwa, Economist beim Jobportal Indeed, sieht da noch einiges Potenzial, sowohl beim Thema Arbeitsbedingungen (Stichwort Homeoffice) wie unter kulturellen Aspekten (Elternzeit für beide Geschlechter, Erleichterung des Wiedereinstiegs von Müttern). Auch das KOFA nennt unter anderem flexible Arbeitszeitmodelle, Remote Work und eine Vereinbarkeit fördernde Infrastruktur (etwa bei den Themen Kinderbetreuung und Elternzeit) als wichtige Argumente, mit denen Unternehmen Frauen von sich überzeugen könnten – nicht zu vergessen ein „diskriminierungsfreies Gehalt“.
Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger nimmt erwartungsgemäß eher die Politik in die Pflicht. Ein erleichterter Wiedereinstieg nach Erwerbspausen etwa sei ein Mittel für Unternehmen, „qualifiziertes Personal zu gewinnen und zu halten“, verlautbart er auf der BDA-Website. Aber „starre gesetzliche Vorgaben, vor allem in Bezug auf die Arbeitszeit“, schränkten die betrieblichen Möglichkeiten ein.
Die Politik ist gefordert
In der Tat halten Expertinnen und Experten regulatorische Änderungen für zentral, um die Erwerbsbeteiligung von Frauen zu steigern. Zwei Erfordernisse sind dabei Konsens: Erstens eine verbesserte Care-Infrastruktur, etwa durch Ausbau der Kinderbetreuung und Entlastungen bei der Angehörigenpflege. Zweitens ein Steuer- und Abgabensystem, das das Doppelverdienen zu gleichen Teilen fördert und etwa auf das sogenannte Ehegattensplitting verzichtet; der BDA fordert zudem die Abschaffung der beitragsfreien Kranken- und Pflege-Mitversicherung von Angehörigen. Mit Blick auf Migrantinnen (wie auf Zugewanderte im Allgemeinen) halten die Fachleute des IAB die Themen Spracherwerb und Anerkennung beruflicher Abschlüsse für entscheidend.
Das Care-Thema ist im Koalitionsvertrag der Regierung ebenso verankert wie der Aspekt des Steuer- und Abgabenrechts:
- Die Ampel will die Familienbesteuerung weiterentwickeln und die Kombination der Lohnsteuerklassen III und V – Basis des bisherigen Ehegattensplittings – „in das Faktorverfahren der Steuerklasse IV überführen“, wie es heißt. Beide Partner könnten demnach nicht mehr zu gleichen Teilen, sondern gemäß ihrem jeweiligen Einkommen besteuert werden. Erstverdienende würden zumindest in der Lohnsteuer – nicht automatisch in der Einkommenssteuer – stärker, Zweitverdienende weniger belastet. Im Effekt sähen sich den noch nicht konkretisierten Plänen zufolge Familien mit Kindern weniger belastet als Paare.
- In Sachen Betreuung hat sich schon zu Jahresbeginn einiges geändert. Jedenfalls beim Thema Pflege: Unter anderem wurden die Beträge für ambulante Pflegesachleistungen (also nicht von Angehörigen selbst erbrachte Leistungen) um fünf Prozent erhöht; für die Kurzzeitpflege (maximal acht Wochen im Jahr) der Stufen zwei bis fünf zahlt die Pflegekasse seither maximal 1774 Euro statt 1612 Euro. Direkt betroffen sind einige Beschäftigte und Arbeitgeber zudem von einer noch von der Großen Koalition auf den Weg gebrachten Neuerung: Ab 1. September 2022 sind nur Pflegeeinrichtungen zur Versorgung zugelassen, die nach Tarif oder in ähnlicher Höhe bezahlen. Laut Deutscher Presseagentur entsprechen inzwischen 90 Prozent der Betriebe dieser Regelung.
- Kniffliger ist das Thema Kinderbetreuung – jener Faktor, der Umfragen zufolge den größten Einfluss darauf hat, wie viel Frauen arbeiten. Vor einem Jahr wurde, noch unter der alten Regierung, ein Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung (acht Stunden) für Grundschulkinder beschlossen. Er gilt ab 2026 zunächst für die erste Klasse und wird bis 2029 schrittweise auf alle Stufen erweitert. Die Umsetzung obliegt Ländern und Kommunen, der Bund fördert lediglich den Aufbau der Infrastruktur. Der Knackpunkt dürfte die Suche nach den schon jetzt fehlenden pädagogischen Fachkräften sein. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung beziffert den zusätzlichen Bedarf auf rund 100.000 Stellen bis 2030. Bittere Ironie: An Grundschulen sind laut der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) 88,6 Prozent der Lehrkräfte Frauen.
Info
Der Artikel gehört zur Titelgeschichte unserer September-Ausgabe 2022. Im Titelthema „Konzentriert eure Kräfte!“ beschäftigen wir uns mit der neuen Personalnot – und damit, wie Unternehmen sie lindern können.
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Nic Richter war bis Sommer 2024 freier Mitarbeiter der Personalwirtschaft.