Die Idee ist keineswegs neu. Seit mehr als einem Jahrzehnt empfehlen Arbeitsmarktexperten und -expertinnen, im Kampf gegen den Fachkräftemangel das Weiterbildungssystem zu verbessern. Es gebe einen Pool an Langzeitarbeitslosen, die für den Arbeitsmarkt qualifiziert werden könnten. Auch stecke Potenzial darin, Beschäftigte weiterzubilden, deren Tätigkeiten durch die Automatisierung wegfallen.
Mit dem 2019 in Kraft getretenen Qualifizierungschancen-Gesetz und dem ab 2020 geltenden Arbeit-von-Morgen-Gesetz wollte die Politik die Rahmenbedingungen für eine nationale Weiterbildung schaffen. Beide Gesetze garantieren Arbeitgebern Zuschüsse, wenn Arbeitnehmer sich beruflich weiterbilden. So wird je nach Unternehmensgröße ein Teil der Weiterbildungskosten sowie der Arbeitsentgeltkosten für den Zeitraum der Qualifizierung vom Staat gezahlt.
Arbeitgeber sollen zeitliche Ressourcen zur Verfügung stellen
Allerdings bezeichnen viele Arbeitgeber und zahlreiche Politiker die Regelungen als nicht ausreichend. Doch woran hapert es derzeit vor allem hinsichtlich beruflicher Weiterqualifizierung? „Weiterbildung in der Mitte des Erwerbslebens scheitert oft am Zeitmangel“, sagte Katharina Bilaine, Expertin der Bertelsmann-Stiftung, kürzlich dem Handelsblatt. „Deutschland braucht eine flexible Bildungszeit, und zwar für alle.“ Damit ist eine Phase gemeint, in der Mitarbeitende teilweise oder komplett von der Arbeit bei anteilig fortlaufendem Gehalt freigestellt werden, um sich weiterzuqualifizieren. Diese sollte laut Bilaine flexibel an den Job und die in der jeweiligen Situation benötigten Skills angepasst werden.
Die Regierungsparteien teilen diese Meinung. Sie haben in ihrem Koalitionsvertrag folgendes dazu vereinbart:
- Es soll eine Bildungszeit ab 2023 geben, um die Bundesrepublik zur – wie Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) es nennt – „Weiterbildungsrepublik“ zu machen. „Wir führen in Deutschland ein System von Bildungszeiten und Bildungsteilzeiten wie in Österreich ein“, sagte Heil Anfang des Jahres dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Jeder Mitarbeiter und jede Mitarbeiterin soll in Absprache mit dem Arbeitgeber bis zu einem Jahr Bildungszeit nehmen können, während der er oder sie von der Bundesagentur für Arbeit in Höhe des Arbeitslosengelds unterstützt wird. Der Arbeitgeber könnte derweil ein sogenanntes Transformationskurzarbeitergeld erhalten. Über dessen Höhe machte die Regierung noch keine Angaben.
- Auch soll es Mitarbeitenden möglich sein, Bildungsteilzeit von bis zu zwei Jahren zu nehmen. Dabei würden sie sich nicht für ein Jahr von der Arbeit freinehmen, sondern in Teilzeit arbeiten und sich parallel weiterqualifizieren. „Die Bildungszeit muss so selbstverständlich werden, wie die Elternteilzeit“, sagt Heil.
- Wer sich weiterbilden möchte, soll zukünftig mehr finanzielle Unterstützung vom Staat bekommen. Die Regierungskoalition möchte ein zusätzliches Bafög einführen: das Lebenschancen-Bafög. Es soll höher und einer breiteren Masse zugänglich sein als das bisher bestehende und weiterhin existierende studentische sowie das Aufstiegs-BaföG. Was genau mit dem Lebenschancen-Bafög gemeint ist, ist bis dato unklar. Nur so viel kann aus einzelnen Aussagen der Regierungsparteien entnommen werden: Es soll eine finanzielle Unterstützung für Menschen sein, die sich zu welchem Zeitpunkt und in welcher Form auch immer beruflich weiterbilden möchten.
- Von der FDP wurde zudem die Einführung eines sogenannten Freiraumkontos vorgeschlagen. Dieses wird mit Geld befüllt, das durch steuerliche Entlastungen übrig bleibt. Lohn auf geleistete Überstunden solle von Steuern und Abgaben befreit werden. Das angesparte Geld könnten Mitarbeitende für Weiterbildungen verwenden, oder um einen möglichen Dienstausfall aufgrund einer Weiterqualifikation finanziell zu überbrücken.
Doch all dies sind bisher nur Pläne, die noch nicht mit entsprechenden Gesetzen konkretisiert wurden.
DGB übt Kritik an Arbeitgeberzustimmung
Die Pläne der Koalition kommen bei Vertreterinnen und Vertretern der Arbeitnehmer- sowie Arbeitgeberseite prinzipiell gut an, gehen diesen allerdings teilweise nicht weit genug. So gibt der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) zu bedenken: „Problematisch an der Bildungszeit ist, dass sie von der Zustimmung des Arbeitgebers abhängen soll.“ Um mögliche „Weiterbildungsblockaden“ zu vermeiden, sollten Unternehmen einen entsprechenden Antrag ihrer Beschäftigten nicht ohne Begründung ablehnen dürfen. Auch mögliche Lohneinbußen während der Bildungszeit sollten deutlich besser abgefedert werden, um Mitarbeitende zur Weiterqualifizierung zu motivieren.
Damit die Bildungszeit erfolgreich ist, müsse die Politik auch neue Standards für Inhalte und Überblick über die Weiterbildungen schaffen, heißt es sowohl seitens des DGB als auch der Bertelsmann-Stiftung. „Die Förderlandschaft ist mit mehr als 2,3 Millionen Bildungsangeboten komplex und erschwert eine Orientierung für Arbeitgeber, Beschäftigte und Arbeitslose“, so der DGB. Ein neu eingeführtes Überblicksystem könnte hier Abhilfe schaffen.
Doch auch der beste Überblick bringt nichts, wenn die Weiterbildungsinhalte nicht gut sind. Mindeststandards für Weiterbildungsanbieter könnten laut dem DGB eine gewisse Qualität sichern. Einen besseren Service hinsichtlich Qualifizierung sollte es laut Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) auch für Zugewanderte geben. Sie arbeiteten oft unter den Möglichkeiten, die ihre Kompetenzen hergeben würden. Wenn ihr Potenzial auch in Deutschland weiterentwickelt würde, könnten sie als Fachkräfte eingesetzt werden.
Vorschlag: Modulare Weiterbildungen einführen
Auch die Art und Weise, wie sich Menschen in Deutschland weiterbilden, könnte nach dänischem Vorbild geändert werden – zumindest würde das Katharina Bilaine von der Bertelsmann-Stiftung gerne sehen. Sie schlägt ein modulares Bildungssystem wie in Dänemark vor. In einem solchen System gibt es nicht nur in sich geschlossene Weiterbildungen, sondern kurze, für sich stehende Module, in denen Qualifikationen vermittelt werden. Diese Module können Mitarbeitende nach Lust und Laune kombinieren. Der Vorteil: Beschäftigte könnten sich Skills gezielter und schneller aneignen. „Jeder sollte verschiedene Elemente, die zu individuellen Erfahrungen und Neigungen, aber auch zur betrieblichen und arbeitsmarktlichen Umgebung passen, absolvieren und auch kombinieren können“, sagt Bilaine.
Arbeitslose zu Fachkräften weiterbilden
Die Fachkräftelücke kann zu einem Teil auch durch die Qualifizierung von Arbeitslosen gefüllt werden – so die Hoffnung der Koalitionsparteien und Vertreterinnen sowie Vertretern der Wirtschaft. 2021 gab es rund 2,4 Millionen Arbeitslose in Deutschland, 1,03 Millionen davon hatten ein Jahr oder länger keinen Job. Die Regierungsparteien möchten vor allem die Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt integrieren und den zwei Dritteln von ihnen, die keine Berufsausbildung haben, eine solche schmackhaft machen. Zukünftig soll das mit einer Qualifizierungsprämie in Höhe von 150 Euro monatlich geschehen. Wer als Langzeitarbeitsloser an Weiterbildungen teilnimmt, erhält die finanzielle Unterstützung.
Lena Onderka ist redaktionell verantwortlich für den Bereich Employee Experience & Retention – wozu zum Beispiel auch die Themen BGM und Mitarbeiterbefragung gehören. Auch Themen aus den Bereichen Recruiting, Employer Branding und Diversity betreut sie. Zudem ist sie redaktionelle Ansprechpartnerin für den Deutschen Human Resources Summit.