Die berufliche Desorientierung ist groß: 32 Prozent der jungen Menschen in Deutschland wissen nicht, wie sie sich nach dem Schulabschluss weiterentwickeln und den Berufseinstieg finden sollen. Das geht aus der aktuellen Studie „Azubi-Recruiting-Trends 2024“ von u-Form Testsysteme in Kooperation mit der Hochschule Koblenz und AUBI-plus hervor. Teilgenommen haben von Mitte Dezember 2023 bis Ende März 2024 etwa 4.900 Schüler und Schülerinnen sowie Azubis. „Die Glorifizierung des Studiums hat mich stark zurückgehalten und mich daran gehindert, mich zu entwickeln“, wird ein Studienteilnehmer zitiert. „Ich wusste einfach nicht, was in der Ausbildung gemacht wird und wie es danach weitergehen kann.“
Den Zahlen nach zu urteilen, ist er damit nicht alleine: 18 Prozent der befragten jungen Menschen wussten nach dem Schulabschluss zwar, dass sie eine Ausbildung beginnen wollten, aber nicht welche. 15 Prozent schwankten zwischen einem Studium und einer Ausbildung und 15 Prozent wussten gar nicht, welche nächsten Schritte sie in ihrer Weiterbildung gehen wollen. Vielleicht liegt dies auch daran, dass sich viele von ihnen erst gegen Ende ihrer Schullaufbahn mit der Frage beschäftigt haben, wohin sie beruflich gehen wollen (18 Prozent). Bei 28 Prozent war es ein halbes Jahr bis einen Monat vorher, in 29 Prozent der Fälle bis ein Jahr vorher.
Doch die mangelnde Berufsorientierung von Nachwuchstalenten liegt nicht nur daran, dass sie sich selbst die Frage noch nicht gestellt haben. Wie eine Untersuchung der Bertelsmann Stiftung aus dem Frühjahr 2024 zeigt, fühlen sich viele junge Menschen von der Schule nicht gut informiert, was Möglichkeiten für ihren zukünftigen Werdegang angeht. Dies trifft besonders auf solche mit einer hohen Schulausbildung zu (43 Prozent gegenüber 32 Prozent derjenigen mit einer mittleren Schulausbildung und 19 Prozent mit einer niedrigen). Sie wünschen sich auch im Vergleich mehr Unterstützung bei der Ausbildungssuche (41 Prozent gegenüber 36 und 24 Prozent). „Wir brauchen insgesamt eine bessere Unterstützung und Beratung bei der beruflichen Orientierung“, folgert Clemens Wieland, Ausbildungsexperte der Bertelsmann Stiftung. „Damit meine ich nicht, zusätzliches Informationsmaterial, sondern individuelle Beratung und Unterstützung auf dem Weg in den Beruf.“
Ausbildung vor der eigentlichen Ausbildung erleben
Felicia Ullrich, Geschäftsführerin von u-Form Testsysteme und Studienautorin des „Azubi-Recruiting-Trends 2024“, empfiehlt eine Form der Berufsorientierungsunterstützung besonders: „Schaffen Sie Erlebnisse“, sagt sie. „Nichts ist besser, als etwas selbst zu erleben und erfahren zu können.“ Dabei spiele es keine Rolle, ob die Erlebnisse kurz oder länger sind. Wichtig sei nur, dass sie abwechslungsreich seien und wirkliche Einblicke in die Ausbildungswelt und den dazugehörigen Beruf bieten. Das sehen wohl auch viele der jungen Menschen so. 87 Prozent der befragten Schülerinnen, Schüler und Azubis gefällt die Idee einer „Grundlagenausbildung“. Bei dieser würden Azubis bei einem Unternehmen mit einem halben Orientierungsjahr beginnen, verschiedene Bereiche durchlaufen und sich dann für einen konkreten Ausbildungsberuf entscheiden.
Am besten können die jungen Menschen eigener Einschätzung nach bei Praktika herausfinden, ob ein Ausbildungsberuf zu ihnen passt. Zudem wünschen sie sich mehr individuelle Beratungsangebote und möchten während der Schulzeit mehr zu Berufsmessen und Informationsveranstaltungen gehen. So schlägt ein Befragungsteilnehmer vor: „Mehr Besuche bei Ausbildungsmessen als Pflichtprogramm während der Schulzeit.“ Auch Informationen rund um den Ausbildungsberuf selbst sowie dazugehörige Karrieremöglichkeiten und Gehaltsaussichten seien zur Berufsorientierung wichtig für die Nachwuchstalente. Studienautorin Ullrich weist zudem darauf hin, dass auch Informationen rund um Arbeitszeit, Urlaub, Ausbildungsinhalt und die Betreuung während der Ausbildung wichtige Entscheidungskriterien seien. All diese Informationen gelte es zielgruppengerecht zur Verfügung zu stellen. „Die jungen Menschen wollen den Beruf verstehen und den Arbeitgeber kennenlernen“, sagt Ullrich.
Merck: Nach dem achtmonatigen Praktikum in die Ausbildung
Dieser Bedarf und Wunsch wird anscheinend momentan von Schulen, Ausbildungsträgern und Arbeitgebern noch nicht gedeckt. Das scheint einzelnen Arbeitgebern bewusst zu sein. Denn sie haben sich beim Azubi-Recruiting auch stark auf die Unterstützungsangebote für die Berufsorientierung fokussiert. So etwa Merck. Der Chemie- und Pharmakonzern hat die Berufsvorbereitungsmaßnahme „Start in die Ausbildung“ entwickelt. Dabei handelt es sich um ein achtmonatiges Praktikum, bei dem Merck junge Menschen weiterqualifizieren und ihnen bei der Orientierung helfen möchte. Ziel dabei ist es, die Nachwuchstalente danach in eine Ausbildung bei Merck zu überführen. Während der Arbeitgeber ihnen 520 Euro monatlich zahlt, bessern die Teilnehmenden des Programms in einer „schulischen Intensivphase“ ihre Mathe-, Deutsch-, Powi- und EDV-Kenntnisse auf und widmen sich Themen wie Umweltschutz, Arbeitssicherheit und belegen die Kurse Grundlagen Chemie und Metall. Anschließend gehen sie in den Betrieb und können Berufsfelder genauer kennenlernen, für die sie sich interessieren.
„Berufsorientierung auf Augenhöhe“ bei Henkel
Weitaus kleinteiligere Orientierungshilfen bietet Henkel. Der Konzern veranstaltet Berufsorientierungs-Events online, in Schulen oder in den eigenen Ausbildungszentren. Dabei erhalten die Teilnehmenden laut Unternehmensangaben Informationen rund um Ausbildungsberufe sowie den Ausbildungsablauf und kommen direkt mit Henkel-Azubis in Kontakt. An einer Ausbildung Interessierte können zudem „Azubi for 1 Day“ sein. In den Schulferien oder in ihrer Freizeit begleiten sie einen Henkel-Azubi für einen Tag und bekommen so einen Eindruck vom Ausbildungsalltag. Wer dann doch noch etwas Berührungsängste hat, kann erstmal die schriftliche Kommunikation wählen. Diejenigen, die an einer Ausbildung oder an einem dualen Studium bei Henkeln interessiert sind, können mit „Azubi Connect“ mit einem Henkel-Azubi oder –Dual-Studierenden gematcht werden. Dafür müssen Interessierte nur eine E-Mail an Henkel schicken und ein Azubi oder eine duale Studentin antworten. Henkel nennt das „Berufsorientierung auf Augenhöhe“.
Ford setzt auf Mitmachaktionen und Elternabend
Der Autobauer Ford geht traditioneller vor und scheint bei Berufsorientierungsangeboten größtenteils auf Mitmachaktionen und Tage der offenen Tür zu setzen. Ob bei „Mädchen Ferienpraktika“ oder „Berufsfelderkundungstagen“ – junge Menschen können sich bei Ford dafür anmelden, drei Tage lang im Ausbildungszentrum zu verbringen und Werkzeuge herzustellen oder eine Maschine zur Herstellung eines Werkzeugstücks mitzuprogrammieren. Oftmals sind es auch die Eltern, welche ihren Kindern bei der Berufswahl Orientierung geben. „Die Eltern sind ganz wichtig für die Berufsorientierung der Jugendlichen“, sagt etwa Studienautorin Felicia Ullrich. Das scheint auch Ford bewusst zu sein. Denn der Konzern organisiert regelmäßig Elternabende zum Thema Berufswahl. Zudem setzt der Autobauer bei den Orientierungsangeboten nicht nur auf Live-Einblicke, sondern auch auf Social Media. So gibt es unterhaltsame Videos, in denen Azubis ihren Arbeitsplatz zeigen und dabei auch auf Benefits des Unternehmens eingehen.
Diese Arten der Unterstützung bei der Berufsorientierung könnten schon bald keine Ausnahme mehr sein, sondern Standard. Denn wie im Arbeitsmarkt generell findet man auch in der Ausbildungswelt einen Kandidatenmarkt vor. Laut Untersuchung der u-Form Testsysteme konnten 39 Prozent der befragten Ausbildungsbetriebe nicht alle Ausbildungsstellen besetzen. Gleichzeitig haben 51 Prozent der befragten Azubis und Schülerinnen und Schüler zwei oder mehrere Ausbildungsangebote erhalten. Mehr Auswahlmöglichkeiten machen die Entscheidung meist schwerer. Genau wie eine andere Tatsache: „Diese Generation weiß, dass sie wahrscheinlich lange arbeiten muss, und hat daher große Sorge, sich jetzt schon festlegen zu müssen“, sagt Ullrich. Im Umkehrschluss heißt das: Wer den jungen Erwachsenen dabei hilft, sich zu entscheiden, sammelt als Arbeitgeber schon einmal Pluspunkte bei ihnen und gewinnt sie im besten Fall als neue Nachwuchstalente für sich.
Lena Onderka ist redaktionell verantwortlich für den Bereich Employee Experience & Retention – wozu zum Beispiel auch die Themen BGM und Mitarbeiterbefragung gehören. Auch Themen aus den Bereichen Recruiting, Employer Branding und Diversity betreut sie. Zudem ist sie redaktionelle Ansprechpartnerin für den Deutschen Human Resources Summit.

