Die Diskussion um den so genannten Karenztag schlägt hohe Wellen in Politik und Wirtschaft. Doch ob ein unbezahlter erster Krankheitstag tatsächlich die Krankenstände senkt und Unternehmen Kosten spart, ist völlig ungewiss. Professor Timo Vogelsang, Associate Professor für Managerial Accounting an der Frankfurt School of Finance & Management, beschäftigt sich seit Jahren in seiner Forschung mit den Auswirkungen von Anreizen. Wir haben ihn gefragt, welches Signal ein Karenztag für Beschäftigte setzen könnte.
Personalwirtschaft: Herr Professor Vogelsang, in der derzeitigen Debatte um den sogenannten Karenztag werden vor allem finanzielle, politische und rechtliche Aspekte erörtert. Es geht weniger um mögliche Auswirkungen auf das Verhalten von Beschäftigten. Was würden Sie diesbezüglich erwarten?
Professor Timo Vogelsang: Ohne einen sauberen Test – oder wie wir sagen, ein Experiment – bleibt das zunächst vollkommen ungewiss. Ich könnte mir aber vorstellen, dass das resultierende Verhalten der Beschäftigten nicht unbedingt den Erwartungen entspricht. Zumindest sehe ich die Möglichkeit, dass unerwartete negative Effekte auftreten könnten.

Sie haben vor einiger Zeit ein Experiment mit Azubis im Handel durchgeführt, bei dem Sie untersucht haben, wie die Azubis auf unterschiedliche Anreize – Geld oder Freizeit – als Belohnung für Anwesenheit reagierten. Können Sie die Ergebnisse kurz skizzieren?
Meine Forschungskollegen Dirk Sliwka, Jakob Alfitian und ich haben hier einen Anwesenheitsbonus implementiert, der regelmäßige Anwesenheit bei der Arbeit belohnen sollte. Paradoxerweise waren die Auszubildenden in der Bonusgruppe im Vergleich zur Kontrollgruppe ohne Bonus häufiger abwesend. Ein anschließender Fragebogen zeigte, dass die Azubis mit dem Bonus ein geringeres schlechtes Gewissen hatten, zu Hause zu bleiben, selbst wenn sie gar nicht krank waren. Der Bonus scheint den Azubis signalisiert zu haben, dass regelmäßige Anwesenheit nicht selbstverständlich ist.
Lässt sich dieses Ergebnis auch auf den unbezahlten Karenztag übertragen? Befürchten Sie dabei ähnliche Effekte wie bei der Anwesenheitsprämie?
Tatsächlich könnte das Ergebnis bei einem unbezahlten Karenztag ähnlich ausfallen. Der Grund ist aber unter Umständen ein anderer. Das Thema der Signalwirkung spielt allerdings auch hier potenziell eine große Rolle. Ein unbezahlter Karenztag könnte den Mitarbeitenden signalisieren, dass dies die schlimmste Konsequenz für Abwesenheit ist. Dies könnte dazu führen, dass Mitarbeitende diese Konsequenz gerne in Kauf nehmen. Außerdem hätten sie dann für Fehltage indirekt bezahlt, was auch in Summe zu einer Steigerung der Abwesenheit führen kann. Das ist natürlich jetzt ein wenig Spekulation. Aber um die Auswirkungen fundiert zu bewerten, brauchen wir auf jeden Fall einen sauberen empirischen Test.
Als mögliche Folge des Karenztages werden von Gegnern eine Misstrauenskultur und Motivationsverluste befürchtet. Teilen Sie diese Befürchtung?
Auch wenn das wieder nur Spekulation ist, kann ich mir das gut vorstellen. Andererseits fände ich es sehr interessant, in diesem Kontext verstärkt eine Vertrauenskultur zu implementieren. Zum Beispiel könnte man die Tage, ab wann ein Attest erforderlich ist, erhöhen, um den Mitarbeitenden mehr Vertrauen zu signalisieren. Studien zeigen, dass Mitarbeitende es schätzen und zurückzahlen, wenn der Vorgesetzte ihnen etwas Gutes tut und Vertrauen entgegenbringt.
Die aufgeregte Karenztag-Diskussion wirkt symptomatisch für viele Debatten. Man sucht für ein vorhandenes Problem – hohe Krankenstände – ein möglichst einfaches und auf den ersten Blick einleuchtendes Heilmittel. Braucht es mehr wissenschaftliche Experimente, um valide Lösungen entwickeln zu können?
Ja. Wir brauchen definitiv in allen Bereichen mehr wissenschaftliche Experimente in Unternehmen. Diese sind zudem oftmals einfacher durchzuführen als man denkt.
Info
Studie: Wie Strafe wirkt
Ein Experiment aus dem Jahr 2000 wird im Zusammenhang mit der Auswirkung von Strafen immer wieder zitiert. Es handelt sich um die Studie: “A Fine is a Price“ von Uri Gneezy und Aldo Rustichini, welche die Auswirkungen von Geldstrafen auf das Verhalten von Eltern in israelischen Kindertagesstätten untersucht. Das Ergebnis war damals überraschend: Nach der Einführung einer Geldstrafe für das verspätete Abholen ihrer Kinder stieg die Anzahl der verspäteten Eltern signifikant an. Und auch nach der Abschaffung der Geldstrafe blieb die erhöhte Anzahl der verspäteten Abholungen bestehen und kehrte nicht zum ursprünglichen Niveau zurück.
Die Autoren argumentierten, dass die Einführung der Geldstrafe das soziale Verhalten der Eltern veränderte. Ohne Strafe betrachteten die Eltern das pünktliche Abholen als soziale Verpflichtung. Mit der Einführung der Geldstrafe wurde das Zuspätkommen jedoch als käufliche Dienstleistung wahrgenommen, wodurch die moralische Hemmschwelle sank. Die Abschaffung der Strafe konnte diese veränderte Wahrnehmung nicht rückgängig machen. Die Schlussfolgerung der Wissenschaftler lautete, dass monetäre Strafen in sozialen Kontexten unbeabsichtigte Folgen haben können. Anstatt unerwünschtes Verhalten zu reduzieren, könne eine Geldstrafe dieses Verhalten legitimieren und sogar verstärken.
Christina Petrick-Löhr betreut das Magazinressort Forschung & Lehre sowie die Berichterstattung zur Aus- und Weiterbildung. Zudem ist sie verantwortlich für die redaktionelle Planung verschiedener Sonderpublikationen der Personalwirtschaft sowie den Deutschen Personalwirtschaftspreis.

