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„80 Prozent Computer, 20 Prozent Mensch“

Personalwirtschaft: Herr Chamorro-Premuzic, wir sprechen heute über Predictable Performance – was verbirgt sich hinter diesem Begriff?
Tomas Chamorro-Premuzic
: Im Kern geht es darum, evidenzbasierte Vorhersagen darüber zu treffen, welche Menschen in der Zukunft welche Leistungen bringen. Predictable Performance ist dabei ein Prozess, der keinen Start- und Endpunkt hat. Man muss es sich eher wie einen Muskel vorstellen, der einen HR-Entscheider oder eine gesamte Organisation befähigt, datengetriebener zu arbeiten.

Was sind die Voraussetzungen für eine solche Vorhersage?
Zunächst muss das Unternehmen für sich systematisch herausarbeiten, welche Kriterien für welche Rolle wichtig sind und es in Zukunft werden. Das Ziel ist es, bessere Entscheidungen über die Entwicklungsperspektiven von Mitarbeitenden zu fällen und sich dabei nicht mehr allein auf menschliche Intuition zu verlassen. Stattdessen wertet man Daten mithilfe von Künstlicher Intelligenz aus.

Tomas Chamorro-Premuzic, Chief Innovation Officer bei der Manpower Group, verrät im Interview wie HR KI am besten einsetzen kann.

Das klingt alles sehr abstrakt. Wie muss man sich den Praxiseinsatz vorstellen?
Es gibt inzwischen große Taxiunternehmen, die ihre Fahrer rein maschinell, über eine Künstliche Intelligenz, rekrutieren. Der Algorithmus wertet Daten wie die Unfallstatistik und das polizeiliche Führungszeugnis des Kandidaten aus und kann anhand dessen sehr akkurat vorhersagen, ob diese Person für den Job geeignet ist. Doch das Verfahren hat seine Grenzen.

Wo liegen diese?
Je komplizierter die Aufgabe, für die jemand vorgesehen ist, desto ungenauer wird die Beurteilung durch einen Algorithmus. Ob ein Fahrer sicher fährt, kann der Computer objektiv anhand der vorherigen Fahrleistung beurteilen. Bei einer Führungskraft ist das schon schwieriger. Dafür müssen Sie sich nur Diskussionen um die Leistungen von ehemaligen CEOs anschauen. Oftmals bekommen übrigens männliche CEOs nach ihrer Entlassung eine bessere Stelle als vorher – weil ihre Leistung eben nicht ausschließlich nach ihren tatsächlichen Verdiensten beurteilt wird.

Ist Objektivität im Recruiting überhaupt möglich?
Ja, indem wir Menschen die richtigen Fragen stellen und dann KI als Hilfsmittel nehmen, um die Antworten bestmöglich auszuwerten.

Muss HR in der Zukunft also Datenspezialisten und Datenspezialistinnen stellen?
Definitiv nicht. HR käme der zunehmenden Komplexität der Datenwissenschaften gar nicht hinterher. Personaler und Personalerinnen der Zukunft müssen selbstkritisch sein, demütig, in der Lage, die eigene Intuition zu hinterfragen und vor allem fähig sein, Probleme anhand von Daten zu benennen.

Können Sie dafür ein Beispiel geben?
Wenn die Personalabteilung die Vielfalt im Unternehmen verbessern möchte, muss erst die Frage gestellt werden: Was ist hier überhaupt mit Vielfalt gemeint? Was ist die Motivation des Unternehmens – ein besseres Employer Branding, die Steigerung von Attraktivität, die Wünsche der Unternehmensführung? Erst dann ist klar, was überhaupt an Daten erhoben werden muss.

So ganz ohne Fachwissen geht es also doch nicht?
Zumindest eine gewisse Affinität und eine positive Einstellung gegenüber datenzentriertem Arbeiten muss auch in HR vorhanden sein. Daran führt meines Erachtens kein Weg vorbei. Auf die eine oder andere Weise nutzen es bereits alle großen Organisationen. Niemand in einem Konzern wird beispielsweise sagen: „Wir rekrutieren rein nach Gefühl“. Alle streben danach, objektiver zu werden.

Kann der Computer wirklich dabei helfen? Es gibt ja immer wieder Fälle von Algorithmen, bei denen die Vorurteile der Programmierenden mit eingebaut wurden.
Ethische KI und Bias sind derzeit das Top-Thema in meinem Berufsfeld. Aber eines wird dabei vergessen: Auch eine nicht perfekte KI ist in dieser Hinsicht dem Menschen immer noch überlegen. Die Ursache der in Algorithmen integrierten Vorurteile ist nicht unbedingt der Programmierer, sondern die bisher erhobenen Daten. Wenn in der Vergangenheit beispielsweise immer nur weiße, mittelalte Ingenieure befördert wurden, geht die KI davon aus, dass sie die geeigneteren Führungskräfte sind. Das liegt aber nicht an dem Algorithmus. Unser Ziel darf hier nicht Perfektion sein – das sind lösbare Probleme und wirsollten uns hier in der Verantwortung sehen, die Algorithmen dahingehend zu verbessern.

Wie kann das aussehen?
Selbst der beste, vorurteilsfreiste Recruiter der Welt kann nicht vergessen, dass die Person vor ihm eine Frau oder ein Mann ist, jung oder alt. Algorithmen können vergessen, und sie sind in ihrem Urteil immer konsistent. Ja, sie liegen auch falsch, ich glaube zum Beispiel nicht, dass Amazon mich wirklich kennt. Aber das kann man auch von vielen Vorgesetzten und ihren Mitarbeitern sagen. Und anders als beim Chef können wir bei einem Algorithmus herausfinden, warum er falsch liegt, und das beheben.

Also müssen wir die Stärken und Schwächen von Computer und Mensch kombinieren?
Wir müssen das ideale Verhältnis finden. Auch heute sitzen bereits Piloten in Flugzeugen, die größtenteils ein Computer steuert. Und dennoch brauchen wir den Menschen am Steuer, um potenziell auftretende Fehler oder Probleme zu beheben. Bei Autos wird es wohl einmal genauso sein. Warum dann nicht auch im Recruiting? Ich glaube, ein gutes Verhältnis ist 80 Prozent Computer und 20 Prozent Mensch. Ich weiß, dass das eine kontroverse Meinung ist. Aber je mehr der Mensch involviert ist, desto mehr Vorurteile bringt er in das System.

Kann auch das Change Management von einer solchen datengetriebenen Vorgehensweise profitieren?
Auf jeden Fall, wenn es problemzentriert angegangen wird. Es muss definiert werden, welche Aspekte im Unternehmen genau verbessert werden sollen. Weniger Kündigungen? Bessere Führungskräfte? Mehr Profit? Wird das nicht gemessen, hat Change Management keinen Sinn. KI und Predictable Performance können hier wie ein Röntgenapparat wirken, der genau zeigt, ob Menschen tatsächlich aus den „richtigen“ Gründen an der Spitze des Unternehmens sitzen – oder eben nicht. Das ist für viele, die am Status Quo nicht rütteln wollen, beängstigend. Aber hier liegt auch für HR eine Chance, sich zu beweisen.

Inwiefern?
HR wird oft nicht ernstgenommen. Schlagworte wie Agilität und lebenslanges Lernen sind nicht griffig genug für Unternehmen. Aber mit der Hilfe von KI und Predictable Performance kann HR greifbare Resultate vorzeigen. Das hat bereits in den letzten zehn Jahren die Glaubwürdigkeit der Profession stark verbessert. Und kluge Unternehmen nutzen dieses Wissen, um an die Wurzel ihrer Probleme zu gelangen.

Angela Heider-Willms verantwortet die Berichterstattung zu den Themen Transformation, Change Managemment und Leadership. Zudem beschäftigt sie sich schwerpunktmäßig mit HR-Technologie und Diversity.