Seit 1971 wählt die Gesellschaft der deutschen Sprache das „Wort des Jahres“, einen Begriff von besonderer Relevanz oder Verbreitung – sozusagen das Buzzword aller Buzzwords der vorausgegangenen zwölf Monate. Zwanzig Jahre später kam das „Unwort des Jahres“ hinzu, das seit 1994 von einer gesonderten Jury gekürt wird. Die Kriterien umfassen nach deren Angaben „Wörter und Formulierungen in allen Feldern der öffentlichen Kommunikation, die gegen sachliche Angemessenheit oder Humanität verstoßen“.
Im Jahr 2004 fiel die Wahl auf das Wort „Humankapital“, das laut wirtschaftswissenschaftlicher Definition die „personengebundenen Wissensbestandteile in den Köpfen der Mitarbeiter“ beschreibt, mit Human Resources als deren Verwaltungsinstanz. Menschen als Ressource und Kapital zu betrachten, ist kalt und herzlos: Diese Kritik gegenüber dem Berufsfeld HR ist so alt wie die Profession selbst und wird ab und an wieder aus der Schublade gekramt. Kürzlich erst sprach ein Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung über HR als „vom Personal entfremdet“, das Unwort von 2004 wurde noch einmal als „entmenschlichend“ gebrandmarkt.
Und tatsächlich ruft „Human Capital“ zunächst ein dystopisches Schreckensbild hervor: Kaum unterschreiben die noch eben mit warmen Worten von familiärer Atmosphäre und umsorgender Firmenkultur angeworbenen Neubeschäftigten den Arbeitsvertrag, platzt die Illusion. Reduziert auf KPIs, wird der Mensch zur gesichtslosen Datenmasse, die dem Computer angeblich sogar verrät, welche Leistung die Person in der Zukunft erbringen wird. Jetzt gilt die Formel „(Erlös − operative Kosten − Personalaufwand) / Personalaufwand = Rendite“. Das angehäufte Humankapital soll, ähnlich einer Batterie von Nutzvieh, möglichst hohe Gewinne abwerfen. Nur dass statt in Käfigen in Großraumbüroparzellen oder an Fließbandplätzen produziert wird. Auch BGM-Maßnahmen dienen nur der Steigerung des Profits, denn ein krankes Huhn legt keine Eier. Kicker statt Freilauf, Yoga statt Antibiotika im Futter.
Folgt man also dem Klischee, lassen sich aus „Humankapital“ nicht nur Reime stricken, sondern wahre Schauermärchen. Doch auch diese haben oft einen wahren Kern: Immer wieder machen Firmen Schlagzeilen, die zu harten Bandagen greifen, wollen ihre Mitarbeitenden nicht einfach brav ihre ihnen zugedachte Rolle als profillose Nummer in der Personaldatenbank spielen. So wurde kürzlich die versuchte Betriebsratsgründung einer Regionalgesellschaft von Aldi Süd durch gezielte Stimmungsmache torpediert.
Aber ist so eine Haltung wirklich in der Betrachtung der eigenen Belegschaft als Kapital begründet? Schon 2004 kritisierten Wirtschaftswissenschaftler Michael Gebauer und Christian Scholz, dass der sprachwissenschaftlich orientierten Jury das ökonomische Fachwissen fehle: Eine humane „Ressource“ suggeriere in der Tat, man könne Menschen einfach ver- und letztlich aufbrauchen. „Humankapital“ dagegen sei ein Fortschritt, denn die Bezeichnung würdige die Interessen, Kenntnisse und Fähigkeiten von Mitarbeitenden, so Gebauer. Auch sein Kollege Scholz sieht einen positiv belegten Begriff, der die Menschen im Unternehmen als Erfolgsfaktoren statt als Kostenstelle kennzeichne. Selbstreflexion ist also auch bei Ökonomen kein Fremdwort.
Es ist wie bei eigentlich allen Buzzwords: Weniger die Wortwahl der Unternehmen an sich zählt, sondern die zugrunde liegende Einstellung. Wer seine Mitarbeitenden lediglich als Ziffern in einer Bilanz sieht, kann das mit noch so warmen Worten nicht lange verschleiern – und verliert sie im schlimmsten Fall. Für das nächste Unwort können übrigens alle Bürgerinnen und Bürger im Laufe des Jahres selbst Vorschläge einreichen. Und das ist eine Ressource, die auch 2022 so schnell wohl nicht knapp wird.
Angela Heider-Willms verantwortet die Berichterstattung zu den Themen Transformation, Change Managemment und Leadership. Zudem beschäftigt sie sich schwerpunktmäßig mit HR-Technologie und Diversity.