Aktuelle Ausgabe

Newsletter

Abonnieren

Biegen ohne Brechen

Der Artikel, den Sie vor sich sehen, wurde unter Bedingungen verfasst, die maximale Flexibilität erforderten. Es ist Winter 2021/22 und noch kein Ende der Pandemie in Sicht, die sich einem geregelten Büroalltag in den Weg stellt. Rekordinzidenzen, Homeoffice-Pflicht und die durch Covid-19 und andere Viren ausfallende Kinderbetreuung stellen im ganzen Land die so vielbeschworene Flexibilität von Arbeitnehmern und Unternehmen auf den Prüfstand. Und so zogen sich auch viele Printjournalisten und -journalistinnen wieder aus ihren Büroräumen zurück. Statt in der Redaktion sitzt also eine von ihnen mit dem Laptop am vollgeklecksten Frühstückstisch und fragt sich: Was bedeutet es eigentlich im Einzeln, dieses „flexibel sein“?

Die Wurzeln dieses Wortes liegen im lateinischen „flecto“, was so viel wie Biegen oder Verändern heißt. Doch was soll sich hier biegen oder wer? Das kommt darauf an, wen man fragt. Aus Sicht der Mitarbeiter bedeutet flexibles Arbeiten: Wann und Wo des beruflichen Tuns sind sekundär, solange die zugeteilten Aufgaben zeitgerecht erledigt werden. Eine flexibel denkende Führungskraft ermöglicht diesen Arbeitsmodus. Das mag auf einige potenzielle Mitarbeiter abschreckend wirken, doch ist er für die derzeit heiß umschwärmten IT-Fachkräfte eine Grundvoraussetzung. Also ergreift so manches Unternehmen die Chance, sich mit „Flexibilität“ als Attribut in Stellenanzeigen als moderner, gar agiler, Arbeitnehmer zu präsentieren.

Doch der Begriff ist dehnbar, seine Verwendung selbst flexibel. Schließlich sind die Grenzen zur Desorganisation und Unvorhersehbarkeit fließend. Unternehmen, die das als „Flexibilität“ verkaufen, bezeichnen die Belegschaft auch mal als eine „große glückliche Familie“, die auch gern ihre Freizeit miteinander verbringt. Arbeit wird dann so umdefiniert, dass sie kaum noch vom Restleben zu trennen ist. Der passende griffige Ausdruck: Work-Life-Blending, das Vermischen von Arbeit und Privatleben. Und die Pandemie wirkt, indem sie uns Dauerflexibilität abverlangt, wie ein sich stetig drehender Quirl, der beide Sphären gnadenlos zusammenrührt. Kaum gab es wieder die erste zaghafte Trennung zwischen Home und Office, kam die vierte Welle angeschwappt und zog das neue Infektionsschutzgesetz nach sich. Wer nicht zwingend muss (und keinen Einspruch dagegen erhebt), arbeitet also wieder daheim. Nur die Wenigsten haben dort aber wirklich ein „Office“. Das ergeben Umfragen immer wieder. Nicht zu vergessen, dass rund zwei Drittel der deutschen Workforce ihre Arbeit gar nicht von zu Hause erledigen können, siehe auch „systemrelevant“. Flexibilität muss man (sich) eben leisten können.

Und Unternehmen müssen sie leisten können. Jede noch so agil aufgestellte Organisation stößt an ihre Grenzen, möchte sie allen Mitarbeitenden maximale Freiheiten bieten. So kann sich in den Sommerferien nicht die gesamte Belegschaft gleichzeitig in den Urlaub verabschieden. Genau wie „Agilität“ benötigt Flexibilität, die mehr als nur ein Buzzword sein will, ein Framework, innerhalb dessen Kompromisslösungen entstehen.

Und dieser Rahmen muss allen Beteiligten klar sein, inklusive der existierenden Grenzen.
Denn wo die Freiheit des einen zu weit geht, muss sich ein anderer verbiegen – auch das bedeutet Flexibilität.

Dieser Beitrag ist zuerst in unserer Januar-Ausgabe erschienen. Ein Abonnement können Sie hier abschließen

Angela Heider-Willms verantwortet die Berichterstattung zu den Themen Transformation, Change Managemment und Leadership. Zudem beschäftigt sie sich schwerpunktmäßig mit HR-Technologie und Diversity.