Personalwirtschaft: Herr Leahy, in der deutschen HR-Szene wird derzeit vielerorts der Slogan „Retention ist das neue Recruiting“ verwendet. Ist das auch in den USA so? Und stimmen Sie dem zu?
Will Leahy: Der Slogan „Retention is the new recruiting“ ist auch in den USA populär. Aber ich denke, wir müssen hier differenzierter vorgehen. Einerseits gehen Rekrutierung und Bindung Hand in Hand. Das eine ersetzt das andere aber nicht und ist auch nicht wichtiger als das andere. Aber wenn man bei der Rekrutierung alles richtig macht, wird die Bindung leichter. Zweitens: Die Unternehmen müssen erkennen, dass das Ziel nicht darin besteht, alle Mitarbeitenden zu halten, sondern die richtigen Talente an das Unternehmen zu binden.
Was sind die richtigen Talente?
Das sind Mitarbeitende, die motiviert sind, Wachstumspotenzial aufweisen oder über Kenntnisse oder Fähigkeiten verfügen, die für uns als Unternehmen wichtig sind. Ob jemand der oder die Richtige ist, hängt stark von den Leistungsfaktoren ab, die für das Unternehmen wichtig sind. Es hängt aber auch davon ab, wie motiviert und zufrieden sie in ihrer Rolle sind. Nur dann können Mitarbeitende das volle Potenzial für das Unternehmen entfalten. Natürlich muss bei der Rekrutierung von Anfang an eine gute Übereinstimmung erzielt worden sein.
Warum sollten nur die „richtigen Talente“ und nicht alle Mitarbeitende im Unternehmen bleiben?
Es ist unproduktiv, Mitarbeitende zu halten, die andere Chancen wahrnehmen wollen, aber aufgrund von Unsicherheiten auf dem Arbeitsmarkt zögern, das Unternehmen zu verlassen. Denn sie sind weniger engagiert und weniger zufrieden bei der Arbeit, was auf ihre Kolleginnen und Kollegen abfärben kann. Mein Leitgedanke ist, dass es unsere Aufgabe als Personalabteilung ist, den Menschen zu helfen, den richtigen Arbeitsplatz zu finden – unabhängig davon, ob es sich dabei um unser eigenes oder ein anderes Unternehmen handelt.
Wie können die „richtigen Talente“ gehalten werden?
Die Personalabteilung oder Führungskräfte fragen die Mitarbeitenden regelmäßig: Wie geht es Ihnen? Was macht Ihnen Spaß? Wie wollen Sie sich entwickeln und was brauchen Sie dafür? Anhand der Antworten können Arbeit und Leistung verbessert werden. Gleichzeitig gilt: Je mehr ein Unternehmen in die Weiterentwicklung investiert – sowohl fachlich als auch finanziell – desto wahrscheinlicher ist es, dass die betreffende Person im Unternehmen bleibt. Um dies regelmäßig zu überprüfen, konzentrieren wir uns bei Greenhouse auf das Engagement. Durch Mitarbeiterbefragungen und Gespräche zwischen Managern und Mitarbeitenden haben wir einen Überblick über den Grad des Engagements in jedem Team und können bei Bedarf Verbesserungen empfehlen.
Welche Benefits sind derzeit beliebt und tragen Ihrer Erfahrung nach dazu bei, Mitarbeitende zu binden?
Die Menschen suchen derzeit nach Flexibilität und nach einem Unternehmen, das in sie investiert – zum Beispiel durch Weiterbildung oder Coaching, Unterstützung bei Kinderbetreuungskosten et cetera. Da die intrinsischen und extrinsischen Motivationen der Mitarbeitenden jedoch von Person zu Person unterschiedlich sind, haben wir bei Greenhouse sehr bewusst Leistungen entwickelt, die bei unserem Team Anklang finden und mit unseren Wertversprechen für die Mitarbeitenden übereinstimmen.
Was ist, wenn die Mitarbeitenden, die ein Unternehmen behalten möchte, trotzdem nicht zufrieden sind?
Wir können nicht alle Mitarbeitende behalten, und wir können auch nicht sicherstellen, dass alle zufrieden sind. Das müssen wir akzeptieren. Wenn wir es trotzdem versuchen, verschwenden wir eine Menge Zeit, Geld und andere Ressourcen. Schließlich geht es bei der unternehmerischen Tätigkeit darum, Strategien und wirtschaftliche Ziele zu verfolgen. Dies kann nur mit dem richtigen Team erreicht werden.
In welcher Weise?
Die Aufgabe einer Führungskraft besteht darin, ein Umfeld zu schaffen, in dem die Mitarbeitenden ihr volles Potenzial entfalten können. Das bedeutet, dass sie in vielen Situationen zu einer Art Dienstleister für die Mitarbeitenden werden. Aber der Versuch, alle zufriedenzustellen, ist nicht nur eine schlechte Strategie, wenn es um die Bindung von Talenten geht, sondern vernachlässigt auch, dass Unternehmen strategische und finanzielle Ziele haben. Und wenn man das berücksichtigt, bedeutet ein Plan zur Bindung von Talenten auch, klare Grenzen zu setzen und manchmal „Nein“ zu sagen. Bei Greenhouse haben wir uns unter anderem von der Vier-Tage-Woche verabschiedet und stattdessen dafür gesorgt, dass unsere Teams über flexible Urlaubs- und Privattage verfügen.
Was gilt heute als lange Betriebszugehörigkeit und deutet auf eine gute Personalbindung hin?
In den USA sagen wir heute „Sie sind schon lange im Unternehmen“, wenn die Mitarbeitenden fünf bis zehn Jahre im Unternehmen sind. Vor nicht allzu langer Zeit hätten wir diese Aussage für 20 Jahre und länger getroffen. Wenn ein Unternehmen heute jemanden länger als fünf Jahre behält, hat es in Bezug auf die Personalbindung gute Arbeit geleistet. Je kürzer aber die Intervalle werden, desto besser muss die Rekrutierung sein.
Haben Sie einen Trick, um die Fünfjahresmarke zu erreichen?
Ich bin ein großer Befürworter davon, jemanden zum ersten Mal in eine Rolle zu stecken, die er oder sie auf diesem Level noch nicht ausgeführt hat. Diese Person springt zwar ins kalte Wasser, kann sich aber auch im Laufe der Jahre durch die Tätigkeit selbst weiterentwickeln, wenn die grundlegenden Fähigkeiten und die Motivation vorhanden sind.
Es dauert eine gewisse Zeit, bis man sich in einer neuen Stelle eingelebt hat und sein volles Potenzial entfalten kann. Kann ein zu schneller Arbeitsplatzwechsel sie daran hindern?
Es braucht Zeit, um die Aufgabe, die Teamkultur, die Menschen und die Arbeitsabläufe kennenzulernen. Wenn Sie jemanden einstellen, der die Aufgabe zum ersten Mal übernimmt, wird diese Person wahrscheinlich Zeit brauchen, um ihre Fähigkeiten zu entwickeln. Innerhalb eines Jahres ist die Person in der Regel noch nicht in der Lage, ihren vollen Einfluss geltend zu machen. Doch nach dieser Zeit sollte ein Unternehmen beginnen, den Wert seiner Investition in das Potenzial der Person deutlicher zu spüren.
Lena Onderka ist redaktionell verantwortlich für den Bereich Employee Experience & Retention – wozu zum Beispiel auch die Themen BGM und Mitarbeiterbefragung gehören. Auch Themen aus den Bereichen Recruiting, Employer Branding und Diversity betreut sie. Zudem ist sie redaktionelle Ansprechpartnerin für den Deutschen Human Resources Summit.

