Personalwirtschaft: Sie beschäftigen sich mit den Zusammenhängen zwischen Artificial Intelligenz einerseits und Archaic Intelligence auf der anderen Seite. Was verstehen Sie unter Archaic Intelligence?
Andreas Moring: Archaische Intelligenz steht für mich für Fähigkeiten und Kompetenzen, die wir Menschen im Vergleich zu Maschinen und Systemen wie KI ‚exklusiv‘ haben und auch nutzen. Sie stammen aus evolutionsbiologisch früheren Epochen. Unser rationaler Geist und Denken sind dagegen noch jung. Die archaischen Fähigkeiten sind unbewusst und aus rationaler Sicht oft obskur, ja sogar primitiv und schon fast peinlich oder störend. Unsere Intuition gehört dazu. Gerade in einer Zeit der Hypertechnisierung können und sollten wir diese Fähigkeiten aber als wichtige menschliche Kompetenz anerkennen.
Ist Intuition die Summe der Erfahrungen und Erkenntnisse, die wir im Laufe unseres Lebens machen – oder steckt noch mehr dahinter?
Unsere Erfahrungen spielen eine große Rolle, und dabei vor allem die Emotionen, mit denen sie in uns verbunden und abgespeichert sind. Aus der Vielzahl an Erfahrungen entstehen Verknüpfungen und Muster in unserem Gehirn, aber auch in unserem Körper. Das Hirn ist also nicht der Alleinherrscher. Auch unser aktuelles und vergangenes körperliches Befinden hat einen Einfluss darauf, wie das Gehirn Strukturen und Verknüpfungen aufbaut und Muster abspeichert. Daraus speist sich unsere Intuition. Das heißt: Intuition ist immer individuell. Das bedeutet auch, dass Intuition eine trainierbare Kompetenz ist, wie ein Instrument zu spielen oder eine Fremdsprache zu sprechen.
Das heißt, wir brauchen auch im beruflich-wirtschaftlichen Kontext eine ‚Ehrenrettung‘ der Intuition?
So ist es. Man kann Intuition als eine Führungskompetenz verstehen und anerkennen. An dem Punkt sind wir aber noch nicht. Alles, was nicht mit Daten und logischen Methoden ‚bewiesen‘ werden kann, wird gemeinhin nicht akzeptiert. Solange es um relativ einfache Fragen und Probleme geht, ist das auch in Ordnung und richtig – zum Beispiel bei der Ausgestaltung einer optimalen Supply Chain oder dem effizienten Einsatz von Maschinen. Anders sieht es bei komplexen Fragen aus, bei denen es kein Optimum gibt und die viele Unsicherheiten aufweisen, oder Entscheidungen, die langfristig wirksam werden. Dazu gehören Partnerschaften und Kooperationen, aber auch Personalentscheidungen; sowohl bei der Auswahl als auch bei der Personalentwicklung. Hier nicht auf intuitives Wissen zuzugreifen, ist fahrlässig und letztlich sogar verantwortungslos. Intuition ist die Kompetenz, die uns dabei hilft, in der Unsicherheit zu navigieren und robuste Lösungen zu finden. Das ist etwas anderes als ein unter bestimmten Prämissen berechnetes Optimum.
Prof. Dr. Andreas Moring
Wir erleben eine Revolution. Wenn wir mittendrin sind, merken wir es nicht unbedingt sofort, aber in der Rückschau werden wir genau das erkennen.
Wer nutzt schon jetzt Intuition bei beruflichen Entscheidungen?
Es gibt wissenschaftlich belegte Unterschiede zwischen angestellten Führungskräften und Unternehmerinnen und Unternehmern. Angestellte Führungskräfte haben Angst, zu ihrer Intuition zu stehen und suchen nach rationalen Begründungen und Daten zur Rechtfertigung; Unternehmer dagegen vertrauen auf ihre Intuition. Für angestellte Führungskräfte ist es verlockend, die Verantwortung an ‚intelligente‘ Systeme zu delegieren. Wenn das System dann einen Fehler macht oder nicht das Optimum rausholt, dann hat halt das System den Fehler zu verantworten. Aus der Perspektive eine echte Win-Win-Situation. Doch das führt zu falschen Entscheidungen und schadet langfristig Menschen und Unternehmen.
Gibt es qualitative Unterschiede bei der Intuition?
Intuition ist Wissen, kein Gefühl aus dem Nichts. Wenn ich über etwas nichts weiß, kann und darf ich mich auch nicht auf meine vermeintliche Intuition verlassen. Das wäre Raten oder Wunschträumen. Dort, wo ich mich gut auskenne, ist meine Intuition die Essenz meines Wissens. Dann kann und sollte ich mich darauf auch verlassen, auch wenn ich nicht genau sagen oder logisch beschreiben kann, wie diese Intuition und die damit verbundene Erkenntnis zustande kommen.
Was verbindet und was trennt die Konzepte Archaic Intelligence mit der Artificial Intelligence?
Bei der Intuition können wir die Funktionsweise beschreiben, aber nicht jedes Detail nachvollziehen. Bei KI-Modellen ist es genauso. KI und Intuition lernen und analysieren beide in Mustern und mit gewichteten Verknüpfungen. Beide sind dort gut, wo es viele Vorerfahrungen und historische Informationen gibt, und beide machen Voraussagen über die Zukunft. Sie müssen trainiert werden und werden dann immer besser. Hier gibt es also faszinierende Parallelen. Interessant ist, dass KI dort sehr gut ist, wo wir Menschen überfordert sind. Dafür können wir mit unserer Intuition Situationen erfassen und Fragen beantworten, die KI nicht berechnen kann. Deswegen reden wir hier auch nicht über Gegensätze oder Rivalen, sondern über Komplementäre.
Bei welchen Aufgaben ist KI menschlicher Intelligenz überlegen? Und wo der Mensch?
Immer, wenn es viele Daten gibt, die Umstände weitgehend stabil sind und ein Optimum berechnet werden kann, ist KI unschlagbar. Auch wenn es darum geht, Dinge zu erkennen, zuzuordnen und zu vergleichen. Solche Tätigkeiten machen heute den Großteil vieler Jobs, vor allem Bürojobs, aus. Geht es um langfristige Entscheidungen mit vielen Unsicherheiten, um Kontextverständnis und Einordnung in größere Zusammenhänge; geht es um irgendeine Art von Kreisläufen, empathische Themen, oder kreative und innovative Herausforderungen, kann es KI nicht mit uns Menschen aufnehmen.
Was bedeutet das für Unternehmen beziehungsweise HR?
Unternehmen stehen vor der Herausforderung, Aufgaben zwischen Mensch und KI neu zu verteilen. Der Aufwand lohnt sich. Denn erstens ist es in Zeiten von demografischem Wandel und Fachkräftemangel der einzig nachhaltige Weg, produktiv zu bleiben. Und zweitens ist eine solche Aufgabenteilung zwischen Mensch und KI der Schlüssel zu Resilienz, Nachhaltigkeit, Innovativität und Wettbewerbsfähigkeit. Die kreative Arbeit in der Entwicklung, die Gestaltung und vor allem das Verständnis von menschlichen Bedürfnissen und Nutzen, sind die Domäne der Menschen. Das gilt auch für HR. Hier brauchen wir Analytics und Predictions der KI, aber ebenso die Empathie, Menschenkenntnis und Kontextverständnis der Menschen.
Werden Jobs wie Texter, Journalisten oder Sachbearbeiter bald überflüssig werden oder verändern sie sich lediglich?
Das hängt vom Jobprofil ab. KI übernimmt nicht komplette Jobs, sondern Aufgaben. Wenn wir Jobprofile nach Aufgaben aufgliedern und schauen, ob sie darin bestehen, etwas zu erkennen, zuzuordnen oder zu vergleichen, dann kann KI hier meistens übernehmen. Beim Voraussagen und Optimieren kommt es darauf an, um was es sich handelt. Sind es mathematisch-statistische Voraussagen und Optimierungen oder technische Voraussagen oder Optimierungen, dann ist hier KI ebenfalls sinnvoll. Wir können also sagen: Je mehr von diesen Aufgaben zu einem Job gehören, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass die KI übernimmt. Am Ende werden sich also sehr viele Jobs verändern. Eine andere Faustregel lautet: Je technischer ein Job ist und je mehr technisches und logisches Expertenwissen er verlangt, desto mehr wird KI diesen Job verändern.
Erleben wir durch KIs wie ChatGPT und Co. gerade eine Revolution oder Evolution?
Wir erleben eine Revolution. Wenn wir mittendrin sind, merken wir es nicht unbedingt sofort, aber in der Rückschau werden wir genau das erkennen. Es ist eine Revolution, weil bisher elitäres Wissen und elitäre Fähigkeiten für jeden zur Verfügung stehen. Das erschüttert Machtgefüge und bisherige Gesetzmäßigkeiten. Grundregeln von Märkten und Geschäftsmodellen ändern sich, teilweise radikal. Und es bedeutet, dass sich die Organisation von Unternehmen in vielen Branchen ändern muss und sich die entscheidenden Wettbewerbsmerkmale ebenfalls verändern und neu gewichten werden. Wenn KI allein nicht mehr exklusiv und wettbewerbsentscheidend ist, dann wird es die Kombination von KI und humanen Ressourcen.
Info
Dr. Andreas Moring ist Professor für Künstliche Intelligenz an der International School of Management ISM in Hamburg. Sein Buch „Künstliche Intelligenz und Intuition – Robuste und nachhaltige Entscheidungen in digitalen Arbeitswelten“ ist kürzlich bei Springer erschienen.
Das Interview wurde zuerst in der „Personalwirtschaft“ 7_8/2023 veröffentlicht – hier geht es zur digitalen Ausgabe.
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Christina Petrick-Löhr betreut das Magazinressort Forschung & Lehre sowie die Berichterstattung zur Aus- und Weiterbildung. Zudem ist sie verantwortlich für die redaktionelle Planung verschiedener Sonderpublikationen der Personalwirtschaft sowie den Deutschen Personalwirtschaftspreis.

