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Lieber kleine Schritte als keine Schritte

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Seit dem 6. Juni 2023 ist die neue EU-Richtlinie zur Entgelttransparenz in Kraft, mit dem erklärten Ziel, gleiche Bezahlung für Frauen und Männer bei gleichwertiger Arbeit sicherzustellen. Somit fordert die Richtlinie im Wesentlichen, die Lohnlücke zwischen Männern und Frauen zu schließen, indem sie Unternehmen unter anderem zur Gehaltstransparenz verpflichtet. Der Anspruch der Direktive geht jedoch weit darüber hinaus: Sie zeigt den Weg zu einer gerechten und nachhaltigen Arbeitswelt auf.

Gehaltstransparenz dient als Auslöser für Veränderungen, da sie Bewusstsein schafft und Vergleiche ermöglicht. Unternehmen werden ermutigt, die Determinanten ihrer Entgeltstrukturen zu überdenken, Ursachen für Ungleichheiten zu erkennen und zu beseitigen. Es geht mitnichten nur um das Schließen einer „Lücke“, sondern um die Schaffung von Chancengleichheit. Die Richtlinie zur Entgelttransparenz lenkt die Aufmerksamkeit gezielt auf strukturelle Probleme wie Rollengerechtigkeit, Aufstiegschancen und Diskriminierung in Beurteilungsprozessen und -kriterien. Sie verpflichtet Arbeitgeber, strukturelle Ungleichheiten zu erkennen und anzugehen. Damit präzisiert sie einen wichtigen Bestandteil der breiter angelegten ESG (Environment, Social, Governance)-Kriterien und bettet sie in die Berichtsanforderungen an Unternehmen zu sozialen und ökologischen Aspekten der Geschäftstätigkeit ein.

Eine Marktstudie von Kienbaum untersuchte, wie Unternehmen die Anforderungen der EU-Richtlinie antizipieren, welche Bedeutung sie ihr beimessen und welche Maßnahmen sie bereits ergriffen haben oder ergreifen wollen, um ihren Anforderungen gerecht zu werden. An der Umfrage (Herbst 2023) in Zusammenarbeit mit Flick Gocke Schaumburg beteiligten sich insgesamt 145 Unternehmen unterschiedlicher Branchen.

Handlungsdruck baut sich unmittelbar auf

Die beschlossene Offenlegungspflicht tritt erstmals 2027 für Unternehmen mit mehr als 150 Beschäftigten rückwirkend für das Jahr 2026 in Kraft; für Betriebe mit mehr als 100 Beschäftigten gilt sie ab dem Jahr 2031. Insofern verwundert es nicht, dass der Handlungsdruck vor allem bei größeren Unternehmen mit mehr als 5000 Mitarbeitenden bereits wahrgenommen wird: Nur drei Prozent von ihnen verspüren keinen Handlungsdruck. Dagegen geben 70 Prozent der KMU an, die erst ab 2031 unter die EU-Richtlinie fallen, dass sie keinen Bedarf zum Tätigwerden sehen. Die Gründe, jetzt aktiv zu werden, sind vielfältig: Die Befragten nennen sowohl externe Faktoren wie die neue Richtlinie der EU (45 Prozent) oder das Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) zur Entgeltgleichheit aus 2023 (31 Prozent). Andere führen auch interne Faktoren wie die Erwartungen von Arbeitnehmenden (31 Prozent) oder der Arbeitnehmendenvertretung (30 Prozent) an.

Zur proaktiven Vermeidung rechtlicher Folgen bleibt Unternehmen nicht mehr viel Zeit, denn wer nachjustieren muss, muss dies vor dem 1. Januar 2026 tun. Mögliche Konsequenzen gehen jedoch weit über den Rahmen der EU-Richtlinie, der Ausgleichszahlungen oder Strafen vorsieht, hinaus: In Zeiten von ESG und dem Wettbewerb um Talente riskieren Unternehmen, in denen es klare Ungleichbehandlung, beispielsweise in Form erschwerter Aufstiegschancen für Frauen gibt, das Interesse von Bewerberinnen und Bewerbern sowie der aktuellen Belegschaft oder den Zuspruch von Investoren zu verlieren.

Die Perspektive wechseln

Die Ergebnisse unserer Umfrage legen nahe, dass die EU-Entgelttransparenzrichtlinie in der Wahrnehmung der Unternehmen lediglich begrenzt geeignet erscheint, die vorhandenen Initiativen zur Entgeltund Chancengleichheit zu befeuern. Vielmehr sehen 64 Prozent der Befragten in der kommenden Richtlinie eher ein „bürokratisches Monster“ als eine praktikable Lösung. Vor dem Hintergrund, dass über 60 Prozent der teilnehmenden Unternehmen den Gender Pay Gap bislang gar nicht oder nur sporadisch ermitteln, ist dies ein nachvollziehbarer Reflex im Antwortverhalten. Die Unsicherheit im Hinblick auf die konkrete Ausgestaltung und die noch ausstehende Umsetzung in nationales Recht verstärken diese Bedenken. Fest steht, die Richtlinie wird umgesetzt werden müssen. Noch ist offen, wer davon profitiert und wer nicht.

Wir raten zum Perspektivwechsel: Wird das Thema in einen breiteren Kontext als in die rein bürokratischen Akte gestellt, wird deutlich, dass in dieser Veränderung viel lohnendes Potenzial steckt. So hat eine Studie (Kienbaum Fokusstudie: Chancengleiches Performance Management, 2022) offengelegt, dass Unternehmen mit einer hoch ausgeprägten Chancengleichheit von einer signifikant höheren Leistung berichten. Sie zeigen sich als rentabler, innovativer und agiler in ihren Organisations- und Führungsstrukturen. Ebenso sind sie attraktiver sowohl für die Belegschaft als auch für potenzielle Bewerberinnen und Bewerber. Entgelttransparenz ist eben nicht nur gesellschaftlich, sondern auch unternehmerisch von hoher Relevanz. Arbeitgeber, die sich als Vorreiter etablieren, verschaffen sich einen strategischen Marktvorteil in Zeiten des Wettbewerbs um Talente und schaffen eine gesunde sowie nachhaltige Unternehmenskultur.

Nicht an die Seitenlinie treten

In Bezug auf konkrete Maßnahmen zeigen sich die befragten Arbeitgeber gespalten: Mehr als die Hälfte plant vorerst keine Maßnahmen und hält sich informiert. Etwa ein Viertel führt regelmäßig systematische Prüfungen durch, und nur 17 Prozent haben bereits Maßnahmen zur Entgeltgleichheit umgesetzt. Während weniger als 40 Prozent regelmäßig einen unternehmensweiten Gender Pay Gap berechnen, analysieren nur 26 Prozent spezifische Bereiche und Personengruppen genauer.

Die Studie belegt, dass in vielen Unternehmen noch zu wenige spezifische Schritte in Richtung Entgeltgleichheit unternommen werden – bevor sie 2027 die ersten konkreten Zahlen zum Gender Pay Gap auf den Tisch legen müssen. Arbeitgeber sollten daher nicht an die Seitenlinie treten, sondern zügig kleine Schritte gehen, um Erfahrungen zu sammeln. Dabei müssen sie nicht immer komplexe Analysen erstellen, um ein erstes Verständnis über die Schwachstellen im eigenen Unternehmen zu gewinnen. Meist können bereits einfache Verfahrenstransparenz und gute Nachvollziehbarkeit Auswertungen über die Belegschaft und ihre Gehälter wertvolle Erkenntnisse und erste Indikationen über individuelle Herausforderungen liefern.

Verfahrenstransparenz und gute Nachvollziehbarkeit

Neben der Veröffentlichung der Entgeltlücke wird künftig auch das Thema einheitliche Kriterien und Dokumentation von Entgeltentscheidungen eine große Rolle spielen. Auch hier zeigen die Studienergebnisse, dass viele Unternehmen deutlichen Aufholbedarf haben: Lediglich die Hälfte der befragten Unternehmen arbeitet bisher mit einheitlichen und klar definierten Kriterien in der Festlegung von Entgelten. Bei über 60 Prozent bildet die Arbeitsmarktsituation eine Leitschnur für die Entgeltfindung; mehr als 40 Prozent lassen sich durch den Eindruck aus dem Bewerbungsgespräch beziehungsweise der individuellen Gehaltsverhandlung beeinflussen.

Mit Inkrafttreten der neuen EU-Richtlinie wird die Relevanz der Dokumentation von Entgeltentscheidungen bedeutend steigen: Arbeitgebende müssen nachweisen, dass diskriminierungsfreie Kriterien zur Bewertung von Entgeltentscheidungen herangezogen werden. Verfahrenstransparenz und gute Nachvollziehbarkeit von Gehaltsentscheidungen werden damit für Unternehmen unerlässlich.

Was Unternehmen jetzt tun können

Die EU-Entgelttransparenzrichtlinie gibt ein Zielbild vor, das in der Vergütungspraxis vieler Organisationen heute noch keine Realität ist. Daher ist eine frühzeitige Herangehensweise gefordert. Wer zu lange wartet, riskiert negative Auswirkungen zum Beispiel auch auf seine Arbeitgeberattraktivität. Gleichzeitig können Unternehmen, die frühzeitig aktiv werden und das Thema Entgeltgleichheit meistern, sich einen wichtigen Wettbewerbsvorteil verschaffen. Um eine solide Basis für die Anforderungen der EU-Richtlinie aufzustellen, sollten Unternehmen sich zeitnah mit den folgenden Themen befassen:

  1. Transparenz: Organisationen sollten ihre Dokumentationsqualität prüfen und sicherstellen, dass sie hinreichend und nachvollziehbar ist. Denn nur dann können im konkreten Fall Lohnentscheidungen ganzheitlich verstanden werden.
  2. Rollen- und Funktionsgerechtigkeit: Die Definition gleichwertiger Arbeit nach einem transparenten und nachvollziehbaren System (beispielsweise Grading) ist für die Gender-Pay-Gap-Analyse unerlässlich. Ein valides Verfahren zur Funktionsbewertung und Rollenarchitektur ist daher die Grundlage für jede weitere Untersuchung.
  3. Leistungssteuerung: Performance-Management-Systeme sollten auf die Erfüllung wichtiger Maßgaben hin überprüft werden. Sind klar definierte und messbare Kriterien als Basis für Leistungsbeurteilungen etabliert? Wie transparent und vergleichbar erfolgen Entscheidungen bei lohnbildenden Prozessen wie Gehaltserhöhung und Beförderung?
  4. Datenbasis und -kompetenz: Zur Offenlegung der Lohnunterschiede wird deren valide Erfassung eine Schlüsselrolle spielen. Sowohl die Datengrundlage und -qualität als auch die notwendige analytische Kompetenz sind erfolgskritisch. Unternehmen müssen daher abwägen, ob sie die Mittel zur ordnungsgemäßen Durchführung im eigenen Haus haben oder entsprechende Auswertungen outsourcen.
  5. Gender-Pay-Gap-Analyse: Der unbereinigte und bereinigte Gender-Pay-Gap sollte frühzeitig analysiert und möglichen Ursachen auf den Grund gegangen werden. Auf Basis dieser Erkenntnisse lassen sich Maßnahmen zur Schließung möglicher Lücken passgenau entwickeln beispielsweise durch Budgetverteilung, standardisierte Vergütungssysteme oder die gezielte Förderung von Frauen in unterrepräsentierten Bereichen.

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