Seit Jahren tobt in der Wirtschaft und der Wissenschaft ein Streit um die Frage, wie man Mitarbeitende am besten incentiviert. Die Kontroverse entzündet sich primär an der Honorierung der individuellen Leistung von Mitarbeitenden: Sollen sie Bonuszahlungen erhalten oder nicht? Und wenn ja, nach welchen Kriterien? Vergütungen von Vertriebsspezialisten sind nicht von dem Meinungsstreit betroffen. Vielmehr fokussiert sich der Diskurs auf den Jahresbonus von Management und Beschäftigten.
Die skizzierte Diskussion findet vor allem in Deutschland und in Teilen Europas statt, nicht jedoch in den USA und Asien, da dort Bonussysteme nach wie vor eine individuelle Leistungskomponente enthalten. Woher rührt also grundsätzlich die Frage nach dem individuellen Bonus? Angeheizt wurde sie in Daniel H. Pinks erschienenem Bestseller „Drive“ im Jahr 2009, in dem er behauptet, dass (individuelle) monetäre Anreize die Leistung von Mitarbeitenden mit komplexeren Tätigkeiten verringern.
Was sagen die wissenschaftlichen Forschungen?
Fundierter lässt sich der Streitgegenstand mit theoretischen Ansätzen aus der Wissenschaft erklären, die sich zwischen zwei Polen bewegen. Auf der einen Seite befindet sich die Principal-Agent-Theorie klassisch ökonomischen Ursprungs. Sie besagt: Mit Boni können monetäre Ziele so gesetzt werden, dass die wirtschaftlichen Interessen des Unternehmens in Einklang mit den Zielen der Mitarbeitenden zu bringen sind.
Auf der anderen Seite gibt es Ansätze aus der Psychologie, die – ähnlich wie Daniel H. Pinks Ausführungen – in Richtung der sogenannten Self-Determination Theory deuten: Sie betonen vor allem die intrinsische Motivation sowie die Bedeutung und den Sinn der Arbeit aus Sicht der Mitarbeitenden. Die Theorie zeigt die Gefahr auf, dass durch zu starke monetäre Anreize die oben genannten Einstellungen reduziert werden.
Neuere Ansätze wie die Reciprocity Theory verbinden die Denkschule der Ökonomie und Psychologie: Sie erkennt Anreize eher als ein Instrument, das die soziale Austauschbeziehung zwischen dem Unternehmen und seinem Personal stärkt. Danach stellen Anreizsysteme eine faire Entlohnung für erbrachte Leistungen dar, auf die Beschäftigte mit fairem, soll heißen leistungsorientiertem Verhalten reagieren. Verhält sich eine Seite unfair, zieht dies ein ebensolches Verhalten der Gegenseite nach sich. Mitarbeitende würden ihre Leistungen reduzieren, wenn sie diese nicht durch ein entsprechendes Entgelt gewürdigt sehen.
Grau ist alle Theorie
Da die vorherrschenden Theorien durchaus widersprüchliche Rückschlüsse zulassen, stellt sich die Frage, wie sich das Bild in der Praxis – oder im Fußballjargon „auf’m Platz“ – darstellt. Hierbei lassen sich zwei „Spielfelder“ unterscheiden. Auf der einen Seite finden sich die nach wie vor sehr erfolgreichen Global Player der Old Economy aus dem Engineering-Bereich und der Industrie; auf der anderen Seite stehen die neuen Spieler aus dem Hightech-Sektor. Dabei verschwimmen die Grenzen zusehends, da sich gerade die Unternehmen aus der Old Economy in Hightech-Organisationen verwandeln.
Da die bekannten Tech-Unternehmen momentan als besonders erfolgreich wahrgenommen werden, versuchen die „alten“ Industrien ihnen nachzueifern. Dies gilt auch für ihre HR- und Vergütungssysteme. So gilt beispielsweise Google als Erfinderin der Objectives and Key Results (OKR) sowie einem auf regelmäßigen Management-Mitarbeitenden-Dialog ausgerichteten Performance Management. Aber inwieweit können auch die Anreizsysteme der Hightech-Unternehmen als Vorbild gelten?
Hightech gleich High-Performance?
Wenn man sich die Anreizsysteme der Hightech-Unternehmen insbesondere im Softwarebereich anschaut, fällt auf, dass es kaum einen Tech-Giganten gibt, der nicht die individuelle Leistung seiner Mitarbeitenden incentiviert und honoriert. Dies betrifft grundsätzlich alle Vergütungsvehikel: High-Performer erhalten höhere Vergütungssteigerungen, höhere Boni und Aktienpakete. In einigen Hightech-Schmieden kommen Top-Performer so auf das Drei- bis Fünffache der Vergütung ihrer „normal“ performenden Kolleginnen und Kollegen. Hierbei ist jedoch einschränkend zu bemerken, dass der Kreis an Top-Performern sehr elitär definiert wird und sich auf die besten ein bis fünf Prozent der Mitarbeitenden beschränkt. Dieser Ansatz der starken Fokussierung auf Spitzenleister entstammt dem sogenannten Power Law von Ernest H. O’Boyle und Herman Aguinis. Sie haben für verschiedene Industrien herausgefunden, dass es typischerweise nur eine sehr kleine Gruppe an Spitzenleistern ist, die ein Unternehmen, ein Sportteam oder einen Film erfolgreich machen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass die global führenden Hightech-Unternehmen fast durchgängig individuelle Leistung mit ihren Bonussystemen honorieren. Typischerweise liegt der Fokus auf dem Erfolg des Gesamtunternehmens und dem Beitrag, welchen das Individuum dazu leistet.
Im Industrie- und Engineering-Bereich ist das Bild nicht ganz so eindeutig. Auf der einen Seite finden sich noch viele Arbeitgeber, die den klassischen Dreiklang an Unternehmens-, Bereichs- und individuellen Zielen im Jahresbonus nutzen. Auf der anderen Seite sind aber auch etliche in diesem Wirtschaftsbereich dazu übergegangen, auf die individuelle Leistungskomponente komplett zu verzichten und im Jahresbonus ausschließlich auf finanzielle Unternehmens- und Bereichsziele zu setzen. Bosch, VW, Mercedes-Benz und Infineon sind häufig genannte Beispiele.
Die Beweggründe der Old Economy, auf die individuelle Incentivierung zu verzichten, sind vielschichtig. Einige Arbeitgeber geben an, stärker auf das Team und weniger auf das Individuum fokussieren zu wollen. Andere waren eines nicht funktionierenden, klassischen Performance-Management-Ansatzes mit Jahresanfangs-, Mid-Year-Review- und Jahresendgesprächen überdrüssig. In diesen althergebrachten Ansätzen lag das Augenmerk primär auf der Vergütung und weniger auf der Entwicklung des einzelnen Mitarbeitenden – mit der Konsequenz, dass die Managerinnen und Manager oft wenig bis kaum in der Bonusfestlegung differenziert haben, um keinem Beschäftigten schlechte Nachrichten übermitteln zu müssen.
Info
- Deci, E. und Ryan, R.M.: Self-determination theory and the facilitation of intrinsic motivation, social development, and well-being. American Psychologist, 55(1), 68–78, 2000
- O`Boyle, E. und Aguinis, H.: The Best and the Rest: Revisiting the Norm of Normality of Individual Performance. Personnel Psychology, 65, 79–119, 2012
- Pink, D. H.: Drive. The Surprising Truth About What Motivates Us. New York, 2000
Das kann die Old Economy von der New Economy lernen
Funktionieren in unterschiedlichen Industrien andere Anreizsysteme? Es ist sicherlich richtig, dass der Hightech-Bereich besonders agil und schnelllebig ist. Wer die neuesten Entwicklungen verschläft, ist rasch nicht mehr wettbewerbsfähig. Somit sind die Leistung und Innovationskraft des Gesamtunternehmens und ihrer Top-Performer in diesem Sektor sicherlich besonders wichtig. Die Nutzung von Bonusmodellen, die auf den Erfolg des Gesamtunternehmens, aber auch der Leistungsträger abstellen, ist insofern nur folgerichtig.
Jedoch gelten auch im Engineering- und Industriebereich ähnliche Anforderungen: Agilität, ständige Erneuerung und Innovationskraft sind in diesem Sektor ebenso wettbewerbsentscheidend, insbesondere wenn auch die Digitalisierung der Produkte und Services sowie der direkte Wettbewerb mit den Tech-Schmieden eine immer stärkere Rolle einnehmen. Daher ist es unverständlich, warum neben dem Erfolg des Unternehmens nicht auch die herausragende Leistung von Mitarbeitenden honoriert werden sollte. Dies entspricht sicherlich der Erwartungshaltung von Topleistern im schlimmsten Fall quittieren sie bei einer unzureichenden Honorierung ihrer Leistung ihre Unzufriedenheit entweder mit einer reduzierten Leistung oder dem Verlassen ihres Arbeitgebers. Eine „sozialistische“ Gleichmacherei der Vergütung aller Mitarbeitenden unabhängig von ihrer individuellen Leistung entspricht auch nicht dem Fairnessgedanken oder einer Vergütungsgerechtigkeit.
Equal Pay nicht mit Equal Paid verwechseln
Nachvollziehbare Leistungsunterschiede sollten sich auch in unterschiedlichen Vergütungen der Mitarbeitenden widerspiegeln. Somit können Unternehmen der Old Economy in puncto Incentivierung einiges von der New Economy lernen. Unabhängig davon, wie weit sich die Unternehmen aus dem Industrie- und Engineering-Bereich in Richtung Tech-Unternehmen entwickeln: Das Halten und Motivieren von Top-Leistungsträgern wird auch für sie essenziell bleiben. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass eine Reihe an Unternehmen, die auf individuelle Ziele im Jahresbonus verzichtet haben, diese wieder eingeführt haben. Dies geht in der Regel mit einfacheren Ansätzen zur Leistungsbeurteilung und nicht mit einem Rückfall in alte Performance-Management-Ansätze einher, bei denen jeder Mitarbeitende nach strikten Verteilungsvorgaben einer Leistungskategorie zugeordnet wird. Moderne Ansätze im Performance Management basieren auf einem kontinuierlichen Dialog zwischen Management und Mitarbeitenden, der auf die Entwicklung des Beschäftigten fokussiert ist. Diese kontinuierlichen Rücksprachen können am Ende des Jahres zu einer holistischen Einschätzung genutzt werden, welche Mitarbeitenden zu den Topleistern gehören, die eine besondere monetäre Honorierung verdienen.
Autor
Dr. Björn Hinderlich
Partner, Executive Rewards Solutions Leader
Central & Eastern Europe, Career und Workforce Solutions, Mercer
bjoern.hinderlich@mercer.com
www.mercer.com
Selina Müller
Managing Consultant
Career und Workforce Solutions
Mercer
selina.mueller@mercer.com
www.mercer.com
