Mehrere Ärztekammern warnen derzeit vor nicht ordnungsgemäßen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (AUB). Der Grund: Viele der ausstellenden Privatärzte und -ärztinnen sind in Deutschland nicht zugelassen oder sogar unbekannt. Grund genug für die Arbeitsrechtlerin Greta Groffy und Nils Rebbe, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Arbeitsrecht bei der renommierten Kanzlei Esse Schümann Commichau, das heikle Thema in einem Blogbeitrag aufzugreifen.
Die besagten AUB können sich Arbeitnehmer oder Arbeitnehmerinnen auf einschlägigen Websites nach Ausfüllen eines Online-Fragebogens als „Anamnese“ ausstellen lassen. Ein persönliches Arztgespräch gibt es vorher nicht, so die Autorin und der Autor. Im Test können Arbeitnehmer oder Arbeitnehmerin den dazugehörigen Fragebogen so ausfüllen, dass er am Ende eine Krankheit diagnostiziert, die sicher zur Arbeitsunfähigkeit führt. Ein weiterer Haken: Die genannten Privatärzte und -ärztinnen sind in Deutschland überhaupt nicht zugelassen. Schlimmer noch: Auf den AUB stehen fiktive Praxisadressen in Krankenhäusern oder Co-Working-Spaces in verschiedenen deutschen Großstädten. Dort sind die genannten Ärzte und Ärztinnen aber nicht bekannt.
Rechtsprechung zu Online-Krankschreibungen
Für Arbeitgeber sind die Fälschungen ein echtes Ärgernis. Und Mitarbeitende, die das fragwürdige Angebot nutzen, riskieren ihre Kündigung. So weist die Ärztekammer Nordrhein darauf hin, dass die Verwendung von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, aber auch von anderen Bescheinigungen (zum Beispiel Covid-Testbescheinigungen oder Impfunfähigkeitsbescheinigungen zu Hochzeiten der Corona-Pandemie), die auf diesen Portalen erworben werden beziehungsweise wurden, gegebenenfalls arbeits- und strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen können. Denkbar sei etwa eine fristlose Kündigung oder gar eine Anzeige wegen Betrugs.
Gleich vor drei Medizinern, die nicht berechtigt sind, AUB auszustellen, warnte die Ärztekammer Nordrhein kürzlich in einer Pressemitteilung. Die in Köln, Essen und Düsseldorf gemeldeten Ärzte Dr. Haresh Kumar, Ahmad Abdullah und Masroor Umar seien weder Mitglieder der dort zuständigen Ärztekammern noch an den jeweils angegebenen Adressen erreichbar. Der Düsseldorfer Arzt hatte lediglich die Hauptadresse der dortigen Uniklinik angegeben. „Die Namen erscheinen auch mit weiteren Adressen in Deutschland auf Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, unter anderem in Dortmund, Hamburg, Berlin und Frankfurt“, schreibt die Ärztekammer. Erworben wurden die fragwürdigen AUB offenbar bei den Online-Anbietern www.dransay.com und www.au-schein.de.
Der Anbieter Dr. Ansay, nach eigenen Angaben das größte deutsche Telemedizin-Start-up, ist mit seinem Geschäftsmodell bereits vor dem Oberlandesgericht Hamburg gescheitert (OLG Hamburg, Urteil 5. November 2020 – 5 U 175/19), schreiben Greta Groffy und Nils Rebbe in ihrem Blogbeitrag. Das Gericht urteilte – nicht zuletzt auf Betreiben der Ärztekammer Hamburg –, dass die Geschäftspraxis und Slogans wie „Hier erhalten Sie Ihre AU-Bescheinigung einfach online per Handy nach Hause“ oder „Symptome checken – Risiken ausschließen – Daten eingeben – Einfach bezahlen – Fertig“ wettbewerbswidrig seien. Ärzte und Ärztinnen dürften Patienten oder Patientinnen grundsätzlich nur im persönlichen Kontakt beraten und behandeln. Fernbehandlungen seien nur bei Menschen zulässig, bei denen die Einhaltung anerkannter fachlicher Standards gesichert sei.
Der namensgebende Dr. Can Ansay hatte nach dem Urteil sein Geschäft auf das Ausstellen von Rezepten ohne vorherige Untersuchung verlagert. Doch offenbar häufen sich inzwischen erneut Fälle von fragwürdigen Krankschreibungen von nicht in Deutschland gemeldeten Ärztinnen und Ärzten. „Ein in Deutschland nicht approbierter Arzt darf keine hier gültigen AUB, auch nicht privatärztlich, ausstellen“, schreiben Greta Groffy und Nils Rebbe in ihrem Blogbeitrag.
Ordnungsgemäße telemedizinische Untersuchung
Dabei ist Feststellung einer Arbeitsunfähigkeit mittlerweile durchaus auch telemedizinisch möglich und gängige Praxis. Dabei gilt: Eine telefonische Krankschreibung soll nur erfolgen, wenn der Patient oder die Patientin innerhalb der vergangenen zwei Jahre wenigstens einmal persönlich in der Praxis vorstellig geworden ist. Dagegen ist die AUB nach einer Videosprechstunde auch für Patienten und Patientinnen möglich, die der Praxis vorher unbekannt waren, dann allerdings auch nur bis zu drei Tage lang. „Diagnosen sind telemedizingeeignet, wenn keine körperliche Untersuchung erforderlich ist“, schreiben Greta Groffy und Nils Rebbe.
Für Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbands BDA, ist die Krankschreibung per Telefon oder Video ein grundsätzliches Ärgernis. „Im teuersten Gesundheitswesen der Welt sollen Krankschreibungen per Telefon erfolgen, weil die Politik die Hausärzteversorgung jahrelang vernachlässigt hat.“ Erklärungsversuche, man wolle sich auf die „richtig Kranken konzentrieren“, würden auf ihn zynisch wirken, kritisiert Kampeter.
Damit werde eine Krankschreibung qualitativ entwertet, so Kampeter, obwohl sie Grundlage für eine Lohnfortzahlung sei. Der BDA-Chef befürchtet einen „negativen Einfluss auf den Betriebsfrieden, da eine Untersuchung in einer Praxis stets Grundlage für eine gesicherte Diagnose-Stellung war“.
Problematische AU-Bescheinigungen erkennen
Doch wie können Arbeitgeber erkennen, ob die eingereichte AUB ordnungsgemäß ist oder nicht? Optisch ähneln die Bescheinigungen der einschlägigen Webseiten – als PDF oder ausgedruckt – in der Regel stark dem früheren „gelben Schein“. Dabei werden gesetzlich krankenversicherte Angestellte seit Anfang 2023 im Normalfall mit einer elektronischen AUB krankgeschrieben und legen die AUB ihrem Arbeitgeber gar nicht selbst vor.
Die genannten Anbieter weisen ironischerweise selbst darauf hin, dass die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen ihren Arbeitgeber sofort um Bestätigung des vorgelegten Dokuments als AUB bitten sollen. Spätestens dann sollten Unternehmen hellhörig werden und die vorgelegte Bescheinigung nicht ohne weiteres akzeptieren.
Vorgehen bei nicht ordnungsgemäßen AU-Bescheinigungen
Hat der Arbeitgeber Zweifel an der Krankmeldung eines gesetzlich versicherten Arbeitnehmers oder einer Arbeitnehmerin, der oder die sich mit einer nicht-elektronischen, privatärztlichen AUB krankschreiben lässt, sollte er seinen Mitarbeitenden unverzüglich auffordern, sich ordnungsgemäß krankschreiben zu lassen. Tut er das nicht, darf der Arbeitgeber die Entgeltfortzahlung verweigern. „Zu beachten ist aber, dass solange das Arbeitsverhältnis noch besteht, trotz der Verweigerung der Entgeltfortzahlung weiterhin Sozialversicherungsbeiträge abgeführt werden sollten, damit der Arbeitgeber sich nicht der Gefahr der Strafbarkeit wegen des Vorenthaltens von Sozialversicherungsbeiträgen gemäß § 266a StGB aussetzt“, raten Greta Groffy und Nils Rebbe.
Allerdings ist es für den Arbeitgeber bei einer elektronischen AUB schwer festzustellen, ob sich der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin per Telefon oder Video korrekt krankschreiben hat lassen. Es besteht dann – wie immer bei Zweifeln an der tatsächlichen Arbeitsunfähigkeit – die Möglichkeit, beim Medizinischen Dienst (MD) der Krankenkassen ein Gutachten einzufordern. In der Regel dauert die Einholung aber so lange, dass bei der Begutachtung die fraglichen Symptome nicht mehr vorliegen, weswegen sich diese Option meist als nicht zielführend erweist.
Dürfen Arbeitgeber nach der persönlichen Untersuchung fragen?
Greta Groffy und Nils Rebbe verweisen in diesem Zusammenhang auf die neueste Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG). Dieses legt nah, dass der Arbeitgeber vom Arbeitnehmer oder der Arbeitnehmerin eine Erklärung verlangen kann, ob vor der Ausstellung der AUB eine persönliche Untersuchung im Sinne der AU-Richtlinie erfolgte.
Der Arbeitgeber soll dies pauschal bestreiten können und gegebenenfalls sogar den Ausdruck der Arbeitgeberausfertigung der elektronischen AUB verlangen können. Das BAG hatte in einem Urteil vom Dezember 2023 gerügt, dass eine vorherige Instanz nicht festgestellt habe, wie der Arzt die Erkrankung des Klägers diagnostiziert habe, wobei die verschiedenen Möglichkeiten der AU-Richtlinie für eine Feststellung im Wege der telefonischen Anamnese oder Untersuchung per Video zu berücksichtigen seien (Urteil des BAG vom 13. Dezember 2023 – 5 AZR 137/23).
Sven Frost betreut das Thema HR-Tech, zu dem unter anderem die Bereiche Digitalisierung, HR-Software, Zeit und Zutritt, SAP und Outsourcing gehören. Zudem schreibt er über Arbeitsrecht und Regulatorik und verantwortet die redaktionelle Planung verschiedener Sonderpublikationen der Personalwirtschaft.

