Frage an die HR-Werkstatt: Wie können Unternehmen Drama in der Belegschaft vermeiden? Es antwortet: Holger Heinze, Partner bei O’Donovan Consulting AG
Drama im Unternehmen ist ungesund für die Menschen und die Organisation als Ganzes. Zu den Symptomen gehören: Klatsch und Tratsch, Mikromanagement, Innovationstheater, Meeting-Marathons, Politik und ein Gefühl von Ohnmacht und Fremdbestimmung bei allen Beteiligten. Wer schon mal einen ganzen Tag Meetings am Stück hatte, der weiß, wie sich ein dramatischer Infarkt einer Organisation anfühlt. Denn hier lassen sich in der Regel kleinere und größere Dramen beobachten. Besagte Dramen sind aus vielerlei Gründen problematisch. Zum Beispiel, weil die Beteiligten nur noch mit sich selbst, ihrem Selbstschutz und ihren Abhängigkeiten beschäftigt sind. Sie achten nur noch auf ihre eigene Rolle – und auf die der anderen. Innovationen werden so gehemmt, neue Ideen kommen nicht mehr auf, Ergebnisse sind selten, Politik und Taktik (also Interaktionen der Drama-Rollen) dominieren.
Für den Begriff „Drama“ existieren viele Definitionen. Im Folgenden soll er als eine Kombination von zwei Bedeutungen verstanden werden. Erstens ist Drama im Folgenden Schauspiel: Menschen übernehmen Rollen und füllen ihre Dramaturgie aus. Zweitens meint Drama hier das, was wir auf unserem Lieblings-Video-Portal sehen, wenn wir das Genre „Drama“ auswählen: Gute Menschen tun sich selbst und gegenseitig unangenehme bis schreckliche Dinge an, weil sie denken, keine Wahl zu haben. In der Kombination soll das bedeuten, dass Menschen Rollen übernehmen, diese füllen und dann dramatische und tragische Dinge tun, weil sie glauben, keine Wahl zu haben.
Opfer, Schurken und Retter
In den späten 1950er Jahren entwickelten Eric Berne und Thomas A. Harris die Transaktionsanalyse, ein psychotherapeutisches Modell zur Analyse von sozialen Interaktionen.
Der amerikanische Psychologe Stephen Karpman entwickelte auf Basis dieser Theorien das Drama-Dreieck als einfaches, alltagstaugliches Modell. Es definiert drei archetypische Rollen in dysfunktionalen sozialen Dynamiken: das Opfer, die Retterinnen beziehungsweise die Retter und die Schurkinnen beziehungsweise die Schurken. Beteiligte Personen wechseln schnell und oft zwischen diesen Rollen und erzeugen so ein sich wiederholendes Muster von Drama, Leid, Ohnmacht und Konflikten.
Die Attraktivität der Opferrolle
Das Drama-Dreieck beginnt in der Regel mit einer Person, die sich in die Opferrolle flüchtet. Das Opfer braucht einen Schurken, der für das empfundene Leid verantwortlich gemacht wird, und ruft gleichzeitig Retter hervor, die versuchen, das Opfer aus seiner misslichen Lage zu befreien. Schurkinnen beziehungsweise Schurken und Retterinnen beziehungsweise Retter können Menschen oder Situationen oder Dingen sein wie zum Beispiel Lieferkettenengpässen, Stellenbesetzungen oder die Personalabteilung. Opfer-Dynamiken entstehen, wenn sich Menschen ohnmächtig fühlen.
In der heutigen VUCA-Welt (Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität) sind Gefühle von Ohnmacht allgegenwärtig. Wer beispielsweise aufgerieben wird zwischen dem Druck, mit der eigenen Abteilung Leistung zu bringen und dem Fakt, dass offene Stellen einfach nicht besetzt werden können, der flüchtet sich aus Selbstschutz in die Opferrolle, verteilt die Schuld und wartet auf einen Retter aus der Misere.
Ein anderes verbreitetes Beispiel für diese Dynamik sind Mikromanagement-Spiralen. Management, Führungskräfte und Mitarbeitende sind im Wechsel Opfer, Schurke und Retter – niemand will das Mikromanagement, alle zahlen auf dieses System ein und es gibt nur Verlierer.
Hier ein Beispiel: Die Mikromanagementspirale beginnt, wenn ein Fehler gemacht wird. Grundsätzlich wissen wir alle, dass Fehler zum (Arbeits-)Leben und zum Lernen dazu gehören. Nun fühlt sich die Führungskraft aber als Opfer dieses Fehlers, weil er peinlich ist, weil die Zeit drängt oder aus einem anderen Grund. Die Führungskraft nimmt sich die Opferrolle, betont ihre Ohnmacht in der Situation („Was soll ich denn tun? Ich habe es ihm schon hundertmal erklärt!“) und weist Schuld und Verantwortung von sich.
Hier wechselt die Führungskraft in die Schurkenrolle und verurteilt den Mitarbeiter. „So etwas liegt ihm einfach nicht, das wussten wir ja eigentlich.“ Im Folgenden muss der Fehler aber behoben werden. Die Führungskraft wechselt also abermals die Rolle, übernimmt die Retterinnen- oder Retterfunktion und verfällt in ein „bevor ich es nochmal erkläre, habe ich es selbst gemacht.“ Das bringt die Befriedigung des Retter-Helden für die Führungskraft, macht aber den Mitarbeiter zum Opfer, das kein konstruktives Feedback bekommt und verdient. Der Mitarbeiter zieht sich nun selbst in die Opferrolle zurück, verabschiedet sich von der Hoffnung, lernen zu dürfen und zu können.
Die Performance des Mitarbeiters nimmt sukzessive ab – schließlich schwinden (Selbst-)Vertrauen und Kommunikation. Die Führungskraft ist in der Retter-Rolle gefangen, die kurzfristig befriedigend ist (weil man den Tag retten kann), langfristig aber sehr stressig. Die Führungskraft wird zum gefürchteten Bottle-Neck.
Ausstieg aus toxischen Drama-Mustern am Arbeitsplatz
Nun ist es nicht damit getan, „Hört auf, Euch als Opfer zu fühlen“ auf Poster zu drucken, denn die Opfer-Orientierung, auch Problemorientierung genannt, ist ein tief in unserer Neurologie verwurzelter Überlebensmechanismus.
Daniel Kahneman, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, untersuchte in seinem Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ die Art und Weise, wie unser Gehirn Informationen verarbeitet und Entscheidungen trifft. Kahneman identifiziert zwei Denksysteme, die unser Verhalten und unsere Entscheidungsfindung beeinflussen:
System Nr. 1 ist unser intuitives Denken, das automatisch und unbewusst abläuft. System Nr. 2 ist das langsame, bewusste und analytische Denken, das bei komplexen Problemen und bewussten Entscheidungsfindungen zum Einsatz kommt. Es ist methodischer und weniger fehleranfällig, erfordert jedoch mehr kognitive Anstrengung und wird daher nicht immer aktiviert. Opfer- und Drama-Mindsets sind Ausprägung von System Nr. 1 – dem schnellen Denken.
Nicht auf den Reflex verlassen
Unser Gehirn wurde im Laufe der Evolution darauf programmiert, Gefahren und Bedrohungen schnell zu erkennen und auf sie zu reagieren. Diese Reflexe sind sinnvoll, wenn uns ein Säbelzahntiger in der Prärie bedroht und wir uns blitzschnell zwischen Kampf, Flucht und totstellen entscheiden müssen. Wenn eine unangenehme E-Mail oder ein Konflikt mit einem Kunden allerdings dieselben Reaktionen auslöst – dann entsteht Opfer-Dynamik und Drama. Das langsame Denken – System Nr. 2, in Kahnemans Sprache – ermöglicht uns, komplexere Probleme zu analysieren, das Zusammenspiel von mehreren Menschen und Abteilungen zu orchestrieren, um einen Kunden glücklich zu machen oder einen Prozess anzupassen. Dazu müssen wir uns aber vom dominanten, schnell aktivierbaren System Nr. 1 – dem schnellen Denken, unabhängig machen. Denn das schnelle Denken, unser limbisches System möchte sehr schnell eine „Lösung“ finden. Lösung heißt hier: Gefahr abwenden.
In der Drama-Dynamik bedeutet dies, dass ich als Schurke auf eine Kundenbeschwerde reagiere und die Schuld einer anderen Abteilung anhänge. Oder als Opfer meine eigene Ohnmacht zum Schutz betone: Ja, der Kunde ist unglücklich, aber mit meinem mickrigen Budget habe ich gar keine Chance, glückliche Kunden zu produzieren. Oder ich springe in die Retter-Rolle und biete eine schnelle Lösung an: Wir schicken dem Kunden einen Wurstkorb, dann gibt er Ruhe. Die Flucht in die Drama-Rollen ist menschlich, denn unser Limbisches System möchte schnell die Gefahr abwehren. Aber dieses Verhalten produziert keine nachhaltig glücklichen Kunden oder verbesserten Prozesse – im Gegenteil. Es sammeln sich Berge von kurzfristig adressierten, aber ungelösten Themen an.
Umgekehrt kann das Drama verhindert werden, wenn die Beteiligten ihre Reflexe bemerken und sich bewusst für langsames Denken und differenziertes Vorgehen und gegen reaktives Problem-in-Schach-Halten entscheiden.
Was können die Menschen tun?
In der Beratungspraxis haben sich 3 Fragen (3VQ – 3 Vital Questions) bewährt, die die aktuelle Dynamik und das vorherrschende System identifizieren und Rollenwechsel ermöglichen:
- Wo liegt mein Fokus? Richte ich mich am Problem aus oder arbeite ich auf ein Ergebnis hin?
- Wie trete ich in Beziehung? Welche Rolle habe ich gerade inne und welche ergebnisorientierten Alternativen habe ich?
- Welche Maßnahmen ergreife ich nun? Was liegt in meinem direkten Einflussgebiet, welche konkreten Schritte kann ich – verbindlich, freundlich, aber konsequent – umsetzen.
Hinter jeder Frage stecken eine Handvoll Denkmodelle oder Lösungsprozesse, die aufeinander aufbauen und mit Übung ermöglichen, Drama zu bemerken und selbstwirksam auszusteigen. So können die Mitarbeitenden die Kompetenz entwickeln, aus dem Drama-Dreieck auszusteigen und in die ergebnisorientierten TED (The Empowerment Dynamic)-Rollen zu schlüpfen.
Was kann das Unternehmen tun?
Unternehmen können durch Coaching, Training, Blended Learning oder Learning-Journeys die Entwicklung dieser Kompetenzen fördern. So bauen die Anwenderinnen beziehungsweise Anwender ihre Fähigkeit aus, Bedrohungsszenarien zu bemerken, eigene Automatismen und Dramamuster zu identifizieren und sich dann bewusst für gestalterische Rollen aus der Empowerment Dynamik zu entscheiden. Dazu werden die Methoden vorgestellt und sichere Räume und Lerngruppen geschaffen, um den Mindset-Change zu üben.
Aspekte der Unternehmenskultur wie die Fehler- und Entdeckerkultur (das heißt die Abkehr von risikoaversen Langzeitplänen hin zur Grundeinstellung, zum Beispiel Lösungen und Produkte explorativ Schritt für Schritt zu entwickeln) oder Konfliktstabilität sind damit verbunden: Je weniger Drama gespielt wird, desto weniger Politik, Absicherung und Ausreden müssen passieren, desto mehr Agilität, Vertrauen und Experimente sind möglich, desto weniger Drama ist nötig.
In unserer Erfahrung eignen sich die Methoden übrigens auch, um Blockaden bei stagnierenden Change Initiativen zu lösen und die Methode so bei Führungskräften zu etablieren. Insbesondere die Reduzierung von Meetings (durch wachsendes Vertrauen und abnehmende Notwendigkeit, sich politisch abzusichern) sorgt nachweislich für effizientere Prozesse.
Autor
Holger Heinze ist Partner der O‘Donovan Consulting AG, 3VQ/TED-Trainer, Coach, Mastertrainer und Übersetzer der Methoden ins Deutsche. Seit 1999 arbeitet er mit Teams und Führungskräften an Kultur, Beziehungen, Veränderungen Geschäftsmodellen und Prozessen, kurz: an Veränderungsstabilität.
Kontakt: Linkedin | E-Mail: holger.heinze@odonovan.de

