Frage an die HR-Werkstatt: Wie finden Unternehmen Mitarbeitende in Krisenzeiten?
Es antwortet: Marc Nissen, Director LinkedIn Talent Solutions
Deutschland droht im nächsten Jahr eine drastische Rezession; die Bundesregierung rechnet damit, dass die Wirtschaft um 0,4 Prozent schrumpfen wird. In der Regel reagieren Unternehmen auf eine solche Entwicklung, indem sie Mitarbeiter entlassen oder in Kurzarbeitszeit schicken. Der derzeitige Fachkräftemangel sorgt jedoch gleichzeitig dafür, dass Unternehmen zunehmend hochqualifiziertes Personal fehlt – und je mehr Babyboomer in Rente gehen, desto höher wird der Bedarf.
Zwischen diesen beiden Polen müssen Unternehmen nun ein gesundes Gleichgewicht finden – insbesondere bei ihrer Personalplanung und ihren Recruiting-Maßnahmen. Jedoch haben sich die Wünsche und Erwartungen von Bewerberinnen und Bewerbern in den letzten Jahren erheblich verändert – und tun dies weiterhin: So zeigt der Global Talent Trends Report von LinkedIn, dass eine sinnstiftende Arbeit deutschen Jobsuchenden heute weniger wichtig ist als noch im August 2021. Dagegen haben Flexibilität, das Gehalt und eine gute Work-Life-Balance an Gewicht gewonnen.
Skills statt Abschlüsse, Lebensläufe und Jobtitel
Doch was bedeuten all diese Voraussetzungen konkret für Unternehmen? Aus einer aktuellen LinkedIn Umfrage geht hervor, dass knapp ein Viertel (24 Prozent) aller Führungskräfte plant, ihre Mitarbeiter angesichts der Krise wieder verstärkt aus dem Büro arbeiten zu lassen. Dabei spielt die Flexibilität bei der Wahl des Arbeitsortes für Arbeitnehmende eine immer wichtigere Rolle. Insights von LinkedIn zeigen, dass ganze 40 Prozent der Arbeitskräfte erwägen, bei zu geringen Freiräumen ihre Stelle zu kündigen. Setzen sich Führungskräfte mit ihrem Wunsch, ihre Mitarbeiter wieder verstärkt im Büro zu sehen, durch, kann sich das negativ auf deren Arbeitsmoral auswirken. Deshalb ist es wichtig, die Benefits, die für Mitarbeiter und Bewerber zentral sind – etwa flexible Arbeitsmodelle –, nicht vorschnell einzuschränken.
Darüber hinaus sollten Unternehmen überlegen, ihren Fokus bei der Auswahl von Kandidatinnen und Kandidaten anzupassen. Hochschulabschlüsse, lineare Lebensläufe ohne Unterbrechungen und eindrucksvolle Jobtitel sind für viele Personalverantwortliche noch immer die entscheidenden Faktoren, um Bewerberinnen und Bewerber auszuwählen. Doch sagen diese Aspekte wirklich etwas darüber aus, was Kandidaten bisher geleistet haben und in Zukunft leisten können? Ein sogenannter „Skill-based Hiring“-Ansatz bietet Recruitern die Möglichkeit, die Qualitäten von Kandidaten zu identifizieren. Das Ziel hierbei ist es, neue Mitarbeiter zu finden, welche die Fähigkeiten mitbringen, um die spezifischen Anforderungen des Jobs zu erfüllen – unabhängig von ihrem akademischen Abschluss.
Gerade im Hinblick auf den Fachkräftemangel kann sich dieser Ansatz bewähren, denn er bietet Unternehmen Zugang zu einem wesentlich größeren Pool an Bewerbern. Wenn Recruiter vor allem auf die Fähigkeiten von Jobsuchenden blicken, eröffnen sich ihnen zwei Möglichkeiten: Zum einen kann dies dazu führen, dass sich verstärkt Kandidaten aus anderen Branchen bewerben, die dort ähnliche Tätigkeiten ausführen. Zum anderen ergeben sich so Chancen für Jobsuchende, die möglicherweise einen komplett anderen Jobtitel haben, im Kern aber über die erforderlichen Skills verfügen. Denn die Überschneidungen der Fähigkeiten, die für den Erfolg in einer Rolle entscheidend sind, können selbst bei grundverschiedenen Beschäftigungen größer sein als angenommen.
Um einen „Skill-based Hiring”-Ansatz umzusetzen, müssen Unternehmen zunächst überlegen, welche Fähigkeiten überhaupt für die jeweiligen Positionen wichtig sind. Dies erfordert einen genauen Blick auf die tagtäglichen Aufgaben. Zudem können auch Gespräche mit anderen Mitarbeitern in diesen Rollen helfen, relevante Skills zu definieren. In der Stellenausschreibung sollten Unternehmen anschließend den Fokus auf eben diese Fähigkeiten legen und beispielsweise hervorheben, dass Branchenkenntnisse nicht erforderlich sind – selbiges gilt beim Active Sourcing.
Den Blick nach innen richten
Unternehmen müssen sich aber nicht immer extern nach neuen Mitarbeitern umschauen – schließlich haben sie meist selbst einen großen internen Kandidatenpool. Es fehlt oftmals lediglich an geeigneten Strukturen und Prozessen, um die internen Potenziale zu erkennen. Gerade bei schwer zu besetzenden Jobs kann dies jedoch eine probate Lösung sein, die weitere Vorteile bietet: Interne Kandidaten kennen das Unternehmen bereits, was das Onboarding erleichtert und die Erfolgsaussichten erhöht. Außerdem zeigen Daten des diesjährigen Global Talent Trends Reports, dass bei Mitarbeitern, die intern den Job gewechselt haben, die Wahrscheinlichkeit wesentlich höher ist, langfristig im Unternehmen zu bleiben. So liegt die Quote bei diesen Arbeitnehmern in Deutschland nach drei Jahren bei 68 Prozent – bei Arbeitnehmern, die nicht intern gewechselt haben, dagegen nur bei 47 Prozent. Unternehmen können durch internes Recruiting mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen: Sie besetzen nicht nur Stellen, die sonst vielleicht offen blieben, sondern zeigen ihren Mitarbeitern auch, dass sie sich im Unternehmen weiterentwickeln können.
Angesichts des Fachkräftemangels bleibt es weiterhin wichtig, neue Mitarbeiter zu finden. Unternehmen sollten aber auch ihre Bemühungen um die vorhandenen Arbeitnehmer verstärken, um sie langfristig zu halten. Eine Möglichkeit kann dabei die Implementierung einer Art internen Talent-Marktplatzes sein, der die Fähigkeiten und Kompetenzen der Belegschaft katalogisiert und sie mit offenen Stellen abgleicht. Drohen beispielsweise rezessionsbedingte Kündigungen, können Mitarbeitende, die gekündigt werden sollen, so etwa an anderer Stelle eingesetzt werden.
Fazit
Keine Frage, Unternehmen kämpfen derzeit auch im Recruiting mit schwierigen Voraussetzungen. Doch sie können diese Situation zu ihrem Vorteil drehen, wenn sie frühzeitig erkennen, dass bisherige Taktiken nicht länger funktionieren und sie ihre Recruiting-Strategie anpassen müssen. Der Fokus sollte deutlich stärker auf den Arbeitnehmern, ihren Skills und ihrem Potenzial liegen – extern und intern. Wer sich die Mühe macht, über den Lebenslauf von Kandidaten hinauszuschauen und die Menschen und ihre Fähigkeiten zu betrachten, wird mit Mitarbeitern belohnt, die tatsächlich zum Stellenprofil passen und das Unternehmen nachhaltig erfolgreich machen.