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„Work-Life-Balance-Angebote können die Arbeitsmenge kaum ausgleichen“

Personalwirtschaft: Herr Abel, Sie haben bei Qualtrics kürzlich eine Studie zu den Employee Experience Trends 2023 veröffentlicht. Rund 30.000 Voll- und Teilzeitbeschäftigte in 27 Ländern und 28 Branchen wurden dafür befragt. Welches Arbeitserlebnis haben Mitarbeitende momentan?
Roland Abel: Die Employee Experience ist zwar besser geworden, aber das reicht nicht, um eine steigende Wechselbereitschaft und damit eine Abwanderung zu anderen Unternehmen zu verhindern. Gleichzeitig hängt die Wechselwilligkeit stark damit zusammen, wie es den Mitarbeitenden in ihrem Unternehmen mental geht und wie fair sie ihre Vergütung empfinden. Die hohe Arbeitsbelastung – verstärkt durch den Fachkräftemangel – sorgt dafür, dass viele Menschen sich ausgebrannt fühlen. Weltweit sagen 38 Prozent der Beschäftigten, dass sie Anzeichen von Burnout an sich erkannt haben. Gleichzeitig spüren sie durch die Inflation den finanziellen Druck auf ihren Schultern und brauchen schlichtweg mehr Gehalt.

Wie viele Mitarbeitende sind denn aktuell zufrieden mit ihrer Bezahlung?
Nur 61 Prozent der weltweit befragten Personen finden, dass sie fair für die Arbeit vergütet werden, die sie leisten – ein Rückgang von zuvor 67 Prozent. Der Grund dafür: Gehaltsbenchmarks, Tarife, eingeplante Budgets und andere Normen sowie die entsprechenden Auszahlungen haben sich nicht so schnell entwickelt wie die Inflation. Das macht sich bei den Mitarbeitenden im Geldbeutel bemerkbar. Deshalb erhöht sich bei vielen Beschäftigten die Wechselbereitschaft, wenn sie sehen, dass sie woanders mehr verdienen und ihren Lebensunterhalt damit besser bestreiten können.

Wie kann die Anzahl der Beschäftigten, die ein Burnout-Risiko haben, verringert werden?
Unsere Studienergebnisse zeigen: Wer insbesondere in Deutschland Anzeichen von Burnout hat, hat oftmals ein Problem mit der Work-Life-Balance. Sprich: Wenn eine notwendige Flexibilität des Berufs- und Privatlebens nicht gegeben ist, ist das Risiko eines Burnouts größer. Andere Treiber für höhere Burnout-Risiken sind insbesondere hierzulande ein respektloser und unfairer Umgang untereinander und durch die Führungskraft, Unzuverlässigkeit und nicht vorhandene Möglichkeiten, Arbeitsprozesse zu gestalten.

Die Work-Life-Balance gilt es also zu verbessern – etwas, worüber die HR-Szene schon seit Jahren spricht und wofür in vielen Unternehmen zahlreiche Aktionen und Programme durch- und eingeführt wurden. Hat das alles nichts gebracht?
So würde ich das nicht sagen. Zunächst muss festgehalten werden, dass die Gesamtzufriedenheit mit der Work-Life-Balance weltweit von 2022 auf 2023 nur leicht gesunken ist – von 73 auf 71 Prozent. Was allerdings auch sichtbar wird: Die Programme scheinen die gestiegene Arbeitsbelastung durch die Personalknappheit vielerorts nicht ausgleichen zu können. Es gibt viele unbesetzte Positionen, deren Arbeit die bestehende Belegschaft mitmachen muss. Aktuell sagen insbesondere in Deutschland nur noch 61 Prozent der Mitarbeitenden, dass sie ihre Arbeitsmenge bewältigen können.

Wie viele waren es zuvor?
Vor einem Jahr waren es noch 78 Prozent der Beschäftigten. Ohne all die Aktionen und Programme zum Umgang mit stressbedingten Gesundheitsrisiken sähe der Befund heute vermutlich noch viel schlimmer aus.

Warum wirken die Angebote für die mentale Gesundheit nicht immer so, wie sie sollen?
Ein Grund ist sicherlich das hohe Arbeitsvolumen selbst. Wenn ich als Mitarbeiter solche Angebote nicht nutzen kann, weil ich zu viel zu tun habe, dann können sie ihre Wirksamkeit nicht entfalten. Ein sehr wirksames Angebot war und ist für viele Mitarbeitende übrigens die Möglichkeit des Homeoffice oder zumindest für hybrides Arbeiten – jedenfalls aus der Sicht der Beschäftigten. Viele Arbeitgeber führen allerdings die „Back-to-Office”-Regel wieder ein, weil sie sich davon eine höhere Produktivität versprechen. Das setzt viele Beschäftigte erneut zusätzlich unter Druck.

Doch das Homeoffice hat nicht nur Vorteile.
Das stimmt. Meine vorherige Aussage ist kein Plädoyer für die eine oder andere Lösung. Sowohl Einsamkeit im Homeoffice als auch die zusätzliche Pendelei und geringere Flexibilität können sowohl die Work-Life-Balance als auch die Mitarbeiterbindung reduzieren. Die Entscheidungen vieler Unternehmen hierzu basieren aus meiner Sicht allerdings nicht gerade auf soliden Erkenntnissen. Es müssten sich viel mehr Unternehmen trauen, mal zu solch kritischen Themen in ihr Unternehmen hineinzuhorchen.

Welche Faktoren erhöhen den Arbeitsdruck der Mitarbeitenden noch?
Der Mangel an einer effizienten Arbeitsorganisation. Auf der einen Seite gibt es eigentlich recht klare Zuständigkeiten bei den Aufgaben. In unserer Studie äußern sich vier von fünf Mitarbeitenden positiv dazu – sowohl in Deutschland als auch weltweit. Aber gleichzeitig ist vor allem in Deutschland ein starker Rückgang (-6 Prozentpunkte) bei der Frage zu sehen, ob die Arbeitsprozesse produktives Arbeiten ermöglichen.

Woran liegt das?
Wer als Arbeitgeber interne Normen und klare Zuständigkeiten aufweicht und Mitarbeitenden mehr Zusatzaufgaben zumutet, als sie in der Lage sind zu übernehmen, erzeugt einen enormen Stress bei den Mitarbeitenden und sie gelangen in ein Hamsterrad. Durch viele Studien, öffentliche Diskussionen und leider auch den an Burnout erkrankten eigenen Kollegen fragen sich mittlerweile viele Beschäftigte, ob sie auch Alternativen haben. Letztlich ist es für jedes Unternehmen eine schwierige Balance zwischen kurz- und langfristigen Erfolgen, zwischen Umsatzplus trotz Ineffizienz und einem Übermaß an Selbstoptimierung, oder auch zwischen Zielerreichung und Zumutbarkeit.

Sind diese Herausforderungen in allen Branchen gleich viel vertreten?
Nein, deswegen sollte man sich die bestimmte Zielgruppe – ob auf Ebene der Branche, des Unternehmens oder einzelner Teams – spezifisch anschauen und datengestützt analysieren, was die Beschäftigten stört und was ihr Arbeitserlebnis verbessern könnte. Studienergebnisse geben Anhaltspunkte dazu, was man messen sollte, aber die Ergebnisse variieren im Einzelfall. Pauschalratschlägen zu folgen, ist deshalb nicht sinnvoll. Wenn man als Unternehmen dagegen fundiert und spezifisch vorgeht, kann man seine Entscheidungen gegenüber der Belegschaft auch viel besser begründen.

Können Sie Beispiele für branchen- und berufsgruppenspezifische Treiber der Unternehmenswechsel nennen?
Gerne. Stark umkämpfte Zielgruppen – beispielsweise Software-Entwickler und Data Scientists – legen vor allem in Deutschland viel Wert auf ein gutes Gehalt und eine gute Work-Life-Balance. In administrativen Funktionen ist der Hauptgrund für einen Wechsel die fehlende Karrieremöglichkeit, im sozialen Bereich sind es hauptsächlich schlechte Prozesse. Diese Aspekte wirken sich etwa bei den internationalen Vergleichsgruppen weniger stark aus. Dort sind es andere Hebel, mit denen man am meisten erreichen könnte. Das zeigt, wie wichtig es ist, genauer hinzuschauen und spezifische Veränderungen einzuleiten.  

Lena Onderka ist redaktionell verantwortlich für den Bereich Employee Experience & Retention – wozu zum Beispiel auch die Themen BGM und Mitarbeiterbefragung gehören. Auch Themen aus den Bereichen Recruiting, Employer Branding und Diversity betreut sie. Zudem ist sie redaktionelle Ansprechpartnerin für den Deutschen Human Resources Summit.