Frage an die HR-Werkstatt: Was können und müssen Familienunternehmen tun, um Top-Führungskräfte für sich zu gewinnen?
Es antwortet: Tim Oldiges, Geschäftsführer der Personalberatung Headgate
Unternehmen haben es derzeit schwer: Rohstoffmangel und die Energiekrise belasten Strukturen, Prozesse und Kosten. Die notwendige Umstellung von Produkten und Abläufen auf nachhaltig und klimapositiv ist eine Mammutaufgabe. Zudem hat Corona die Transformation der Arbeitswelt branchenübergreifend katalysiert, während die dafür notwendige Entwicklung digitaler Strukturen häufig hinterherhinkt. Kurz: Unternehmen und deren Führungspersonal sehen sich derzeit zahlreichen Herausforderungen gegenüber, sind aber durch veraltete Strukturen und tradierte Denkweisen – völlig unabhängig vom Alter des Managements – oftmals gar nicht in der Lage, diese Transformation zu bewältigen. Gerade deshalb ist es immer wichtiger, Führungskräfte an Bord zu holen, für die die Agilität der neuen Arbeitswelt gewohntes Terrain ist, die die Branchenspezifika verstehen und die Unternehmen souverän durch die Krise und in eine moderne Zukunft führen.
Doch solche „Alleskönner“ auf Top-Level werden derzeit in allen Branchen händeringend gesucht und haben auch ihren Preis, nicht nur in puncto Vergütung, sondern auch beim Arbeitsumfeld. Einige wichtige Punkte sollten Unternehmen deshalb beachten, um die Top-Leute zu gewinnen und diese auch an sich zu binden – und sich durchaus auch kritisch hinterfragen.
High-End-Office? Reicht nicht aus
Die Tech-Riesen Meta, Google und Microsoft warten mit immer ausgefalleneren Büroflächen auf, vom Waben-Arbeitsplatz bis hin zu Kettcars als Fortbewegungsmittel auf einem spielwiesenartigen Campus. Ein Vorbild für alle? Für Unternehmen, die ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gerne an das Büro binden möchten, ist dies sicherlich eine schöne und Kreativität fördernde Arbeitsatmosphäre, jedoch nicht für jede Branche erstrebenswert. Grundsätzlich gilt: Möchten Sie Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor Ort sehen, müssen Sie diesen auch entsprechend der Bedürfnisse Ihrer Mitarbeitenden gestalten.
Wer vorwiegend auf Homeoffice setzt, kann sich gegebenenfalls übermäßigen Aufwand und Kosten sparen. Wichtig: Schaffen Sie aber auf jeden Fall Strukturen und Räume, die einen Austausch zwischen alle Beschäftigten ermöglichen, beispielsweise Gemeinschaftsräume oder attraktive Kantinen, in denen auch Meetings stattfinden können. Dies ist übrigens auch bei der Etablierung von Homeoffice oder dem Angebot von Remote Work notwendig – nur eben digital. Am Ende muss das Gesamtpaket stimmen.
Blick hinter die Unternehmensfassade
Wofür steht das Unternehmen? Agiert es rein gewinnorientiert oder gibt es einen gemeinnützigen Mehrwert? Top-Kandidatinnen und -Kandidaten interessieren die Visionen des Unternehmens und die Werte, für die es einsteht. Seien Sie dabei ehrlich mit sich und den Top-Kandidatinnen und -Kandidaten. Investieren Sie daher Zeit in eine Überarbeitung Ihrer Unternehmensvision, denn es geht vielen Menschen heutzutage nicht mehr nur darum, Geld zu verdienen, sondern sie wollen Teil von etwas Großem sein, einen Mehrwert sehen, eine Perspektive haben. Daher sind auch Fragen nach der Zukunft des Unternehmens, ob dieses neue, spannende Projekte anstrebt oder Nachhaltigkeit in den Fokus seiner Produktion setzt, wichtige Aspekte. Dabei müssen nicht alle offenen Projekte schon über eine Lösung verfügen, im Gegenteil: Zeigen Sie den Kandidatinnen und Kandidaten transparent, was sie konkret für das Unternehmen tun können oder für welche Herausforderungen Sie sie brauchen.
Marktfähige Rahmenbedingungen
Wichtig sind natürlich auch die Hard-Facts, die Unternehmen Top-Potentials bieten, also Jobtitel und Vergütung. Schließlich möchten Top-Kandidatinnen und -Kandidaten für ihre Expertise und ihr Know-how entsprechend entlohnt werden. Auch wenn es schmerzt, sollten Unternehmen für passende Top-Kandidatinnen und -Kandidaten tiefer in die Tasche greifen. Führungskraft zu sein ist – insbesondere in diesen herausfordernden Zeiten – ein harter Job. Bedenken Sie die Anforderungen und die Herausforderungen, vor denen Top-Kandidatinnen und -Kandidaten stehen, durch welche Krisen sie zu lotsen haben und welcher Druck auf ihren Schultern lastet. Vergüten Sie sie entsprechend für die Branche üblich! Um wettbewerbsfähig zu sein, müssen Sie dafür gegebenenfalls ihre Gehaltsstruktur anpassen oder neue und flexible Vergütungssysteme etablieren, beispielsweise mit einer erfolgsabhängigen Bezahlung on top des Gehalts. Denn New Work braucht auch New Pay!
Raum für Kreativität und Eigeninitiative
Nicht nur die Vergütung, sondern auch der Freiraum für Kreativität und Engagement stellt eine wichtige Rahmenbedingung dar. Neben jüngeren Talenten, bei denen dies oft selbstverständlich ist, sollten auch gestandene Managerinnen und Manager immer wieder gefordert, gefördert, motiviert und inspiriert werden. Das wird an der Spitze eines Unternehmens leider oftmals vergessen. Schaffen Sie eine Führungsebene, in dem Raum für Kreativität und Eigeninitiative gegeben ist. Lassen Sie Top-Kandidatinnen und -Kandidaten wissen, dass Sie ihnen Gestaltungsfreiraum bieten werden und halten Sie dies auch ein.
Zukünftige Führungskräfte lassen sich zudem durch eine individuelle Personalentwicklung ebenfalls in den eigenen Reihen herausbilden. Fördern Sie Potentials und ermöglichen Sie ihnen, an ihren Aufgaben zu wachsen und die Unternehmensentwicklungen mitzugestalten. Auch wenn es für viele Führungskräfte noch etwas überzogen scheint: Menschen und Talente zu entwickeln bedeutet, die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen und sie darin so frei wie möglich agieren zu lassen. Insbesondere Letzteres ist im Alltag für viele immer noch eine Herausforderung.
Mündige Mitarbeitende
Die Zeiten patriarchischer Strukturen, in denen „der Chef den Ton angibt“ und Mitarbeitende alles hinnehmen müssen, gehören der Vergangenheit an und sind im Übrigen auch wenig zielführend. Schaffen Sie eine Kultur mit mündigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die eigenständig mitentscheiden können und in der diese, wenn sie wirklich wollen, einen Beitrag zur Weiterentwicklung des Unternehmens leisten können. Auf diese Weise findet ein Dialog auf Augenhöhe statt und Führungskräfte finden in ihren Kolleginnen und Kollegen „Sparringspartner“, die sie herausfordern, ihnen direktes Feedback geben und Entscheidungen auch mal hinterfragen können. Und so lässt sich gemeinsam die Zukunft des Unternehmens gestalten. Als Unternehmen sind Sie in der Verantwortung, entsprechende Grundlagen zu schaffen, etwa mit Townhall Meetings, transparenten internen Kommunikationstools oder internen Workshops.
Perspektiven schaffen
Talente wollten heute nicht nur die akuten Herausforderungen, sondern auch die langfristige Strategie des Unternehmens und dessen Rolle in der Branche sehen. Sind die größten Krisen und Herausforderungen gemeistert? Wie lautet der 10-Jahres-Plan? Wo soll das Unternehmen dann stehen und welcher Beitrag muss dafür geleistet werden, und welche Fähigkeiten werden in der Organisation dafür benötigt? Diese Fragen müssen geklärt sein, bevor das Recruiting beginnt.
Daneben ist auch das Aufzeigen der persönlichen Perspektive essenziell. Welche persönlichen Wachstumsmöglichkeiten gibt es und welchen Beitrag kann ein neuer Mitarbeiter oder eine neue Mitarbeiterin zur Zielerreichung leisten? Klären Sie, wie die Zukunft des Unternehmens aussieht und welche Rolle die neue Führungskraft langfristig darin spielen soll. Wenn Sie diese Perspektiven glaubhaft und authentisch vermitteln, werden Sie Top-Kandidatinnen und -Kandidaten für sich gewinnen können. Die Zeiten für künstliches Employer Branding sind jedoch vorbei. Kommunizieren Sie authentisch, ehrlich und nachhaltig. Die heutigen Kandidatinnen und Kandidaten sind häufig gut informiert, haben Zugriff zu unterschiedlichsten Informationsquellen und erkennen Missverhältnisse schnell. Also gilt auch im Recruiting: Ehrlichkeit währt am längsten.
Autor
Tim Oldiges ist Geschäftsführer und Gesellschafter der Headgate GmbH, einer deutschen Personalberatungen für große Familienunternehmen in den Bereichen Automotive, Bau, FMCG & Handel, Industrie und Logistik. Kontakt: info@head-gate.de