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Die Grenzen der Gehaltstransparenz

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Nicht nur das Entgelttransparenzgesetz, das im Wesentlichen für Vorstände börsennotierter Aktiengesellschaften gilt, sondern auch New-Pay-Konzepte und der Gender-Pay-Gap befeuern die Diskussion um mehr Gehaltstransparenz. Wie weit sollte sie gehen? Das müssen sich tarifgebundene Unternehmen nicht fragen, da ihre Entgelttabellen auf dem Tisch liegen. Die nicht tarifgebundenen Organisationen haben in der Regel mehr oder weniger transparente Vorgehensweisen entwickelt: Zum Beispiel kommunizieren sie Gehaltskorridore sowie Einstufungs- und Verfahrensprozesse. Doch einige wenige Unternehmen – meist kleine aus der Marketing- und IT-Branche – setzen mit Open Salaries oder transparenten Gehaltsspannen dagegen. Können sie als Vorbilder dienen?

Die Frage, warum sich die skandinavische und US-amerikanische Haltung bei der Beredsamkeit zum persönlichen Einkommen deutlich von der deutschen (vgl. das Sprichwort: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold) unterscheidet, soll hier nicht erörtert werden. Vielmehr interessiert, ob Gehaltstransparenz die Lösung einiger Personalprobleme sein könnte. In Fachartikeln wird der Ruf danach immer lauter: Gehaltstransparenz wirke der Unzufriedenheit entgegen, sei ein Wettbewerbsfaktor, erleichtere das Recruiting, unterstütze die Talentbindung und vieles andere. Auffallend häufig werben junge Unternehmen in Stellenanzeigen mit diesem Begriff – ohne zu erläutern, was sie darunter verstehen. Gläserne Prozesse, Einstufungskriterien oder Gehaltsdaten?

Anders geht die Werbeagentur Elbdudler mit 80 Beschäftigten vor. Sie verspricht in Stellenanzeigen „Transparenz rund um Zahlen und Entscheidungen“ und meint damit Open Salaries. Seit der Gründung 2009 legt das Unternehmen die persönlichen Gehälter intern für jeden Mitarbeitenden offen. „Wir legen großen Wert auf Transparenz, nicht nur beim Thema Gehalt“, sagt Senior HR-Manager Julian Draxler. Neben einer frei zugänglichen Tabelle, in der alle Beschäftigten mit ihrem Gehalt aufgeführt sind, zeigt eine weitere Liste die Vergütung für die jeweilige Abteilung sowie die unterschiedlichen Erfahrungsstufen/Ranges an.

Zahlen auf den Tisch

Aus Sicht von Julian Draxler sprechen viele Argumente für die völlige Transparenz: „Über Gehälter wird vermutlich in jedem Unternehmen gesprochen. Bei uns aber über die konkreten Zahlen und nicht über mögliche falsche, die sich über den Flurfunk verbreitet haben.“ Die Offenlegung und „die damit verbundene Notwendigkeit der Nachvollziehbarkeit machen die Gehälterverteilung innerhalb des Unternehmens aus unserer Sicht fairer und führen zu einer größeren Zufriedenheit, solange die Einstufungen der einzelnen Gehälter in einem transparenten System nachvollziehbar bleiben“. Außerdem habe dieses Vorgehen den Vorteil, dass „bestimmten Negativeffekten wie dem Gender-Pay-Gap oder Buddy-Business entgegengewirkt wird“. Ebenso könnten die gläsernen Zahlen Vorteile mit sich bringen, da bei Bewerbungen zwischen Gehaltsvorstellung und der tatsächlichen Einstufung keine allzu große Diskrepanz bestehe.

Julian Draxler sieht allerdings auch Nachteile: „Wir können keine Kompromisse bei der Gehaltseinstufung einzelner Leute machen.“ Wolle man eine Person also unbedingt gewinnen, „haben wir nicht die Möglichkeit, mit einem im Agenturvergleich höheren Lohn zu locken, sondern müssen stets das Gehaltsgefüge im Blick behalten“. Das System Open Salaries sei definitiv kein bequemes Vorgehen, das „für jeden Einzelfall ‚gebogen‘ werden kann, wie es gerade passt“. Die Zustimmung zur internen Offenlegung des eigenen Gehalts ist bei Elbdudler Einstellungsvoraussetzung und auch im Arbeitsvertrag festgehalten.

Anonymisierte Gehaltsspannen

Beim Softwareentwickler Byte5 hat man sich für ein anderes Modell entschieden. Alle im Team können neben den Unternehmenskennzahlen auch die anonymisierten Gehaltsspannen einsehen. Das bedeutet: Es ist ersichtlich, wie hoch das Gehalt für welche Position ist, aber nicht, wer wie viel verdient. Bei 24 Mitarbeitenden fällt es leicht, das eigene Gehalt und das der Kolleginnen und Kollegen einzuordnen. Erkennbar ist, was beispielsweise Beschäftigte im Backoffice verdienen, nicht aber das konkrete Gehalt der einzelnen Person. Jessica Mai, verantwortlich für Recruiting und HR: „Die Anonymisierung und die Darstellung als Spannen dienen dem Datenschutz und bieten einen Anreiz für mögliche Gehaltssprünge.“

Großen Wert legt der Softwareentwickler Byte5 darauf, dass die Rahmenbedingungen, also Unternehmenskultur und Vergütungsprozess, passend gestaltet sind. Daher wurde ein Pay Panel installiert, ein Gremium von fünf Personen aus den Bereichen Recruiting, Teamlead, Entwicklung, Backoffice und der Geschäftsführung, das den Einstufungs- und Gehaltsentwicklungsprozess steuert. Das Gehalt richte sich nach dem Markt und „nicht nach dem Verhandlungsgeschick einzelner Mitarbeitender“.

Die wichtigsten Informationen für die Gehaltsvorschläge liefern die Feedbackgespräche, bei denen viermal im Jahr sowohl die fachliche Expertise, Managementfähigkeiten, persönliche Entwicklung als auch das Verhalten im Team betrachtet werden. Sie bilden neben marktüblichen Referenzgehältern, der Marktsituation sowie der wirtschaftlichen Lage des Unternehmens die Grundlage für die Beurteilung durch das Pay Panel. Nicht berücksichtigt werden hingegen beispielsweise der Abschluss, das Geschlecht, das Alter oder die Länge der Unternehmenszugehörigkeit. Klassische Gehaltsbänder oder -stufen gibt es im Vergütungssystem nicht.

Transparente Vergütungsgrundsätze

Basierend auf den Ergebnissen der Feedbackgespräche sowie den Referenzgehältern unterbreitet das Pay Panel einen Gehaltsvorschlag. Nimmt der Mitarbeitende diesen an, ist der Prozess abgeschlossen. Andernfalls werden alle Kriterien noch einmal überprüft, und es wird gemeinsam nach einer Lösung gesucht. Um struktureller Diskriminierung vorzubeugen, werden für die Berechnung der Referenzgehälter ausschließlich die der Männer herangezogen.

Mögliche Nachteile des Systems, die vor der Einführung befürchtet wurden, „wie Neid und Vorteile durch Freundschaften mit Pay-Panel-Mitgliedern, haben sich glücklicherweise nicht bewahrheitet“, berichtet Jessica Mai. Dafür sorgen „die Vertrauenskultur und die offene Kommunikation im Team, in die wir jahrelange Arbeit gesteckt haben und an der wir kontinuierlich weiterarbeiten“. In Stellenanzeigen wirbt Byte mit den Gehaltspannen, sofern es die Jobportale vorsehen. „Die Transparenz begleitet uns im gesamten Bewerbungsprozess mit dem Ziel, die finanziellen Erwartungen beider Parteien zu klären. Daher integrieren wir eine abgeschwächte Version des Pay Panels und machen erst am Ende einen Gehaltsvorschlag, der sich an den Kenntnissen orientiert, die im Lebenslauf nicht immer direkt ersichtlich sind.“

Ob glasklare Gehaltsspannen und Pay Panels auch in großen Unternehmen funktionieren? Jessica Mai von Byte5: „Wir planen mit Wachstum. Erste Gedanken dazu, wie das Pay Panel auch in größeren Teams umsetzbar ist, haben wir uns bereits gemacht.“ Bis zu einer gewissen Unternehmensgröße könne man mehrere Pay Panels für verschiedene Abteilungen gründen und gegebenenfalls auch mit Mitarbeitenden aus dem Betriebsrat besetzen. Entsprechende Ideen werde man zu gegebener Zeit testen und dann über deren Sinnhaftigkeit gemeinsam mit dem Team beratschlagen.

Fairness vor Transparenz

Ob Open Salaries oder eine größtmögliche Vergütungstransparenz zur mehr Zufriedenheit bei Mitarbeitenden führt, beurteilt der Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftspsychologe, Professor Stefan Diestel, kritisch. „Welcher Effekt eintritt, wenn in einem Betrieb Open Salaries gelebt werden, ist immer eine Frage der Unternehmenskultur.“ Ein Resultat könne zum Beispiel sein, dass ein verstärktes Konkurrenzdenken unter den Mitarbeitenden eintritt. Möglicherweise sei dieser Effekt sogar von der Geschäftsführung gewünscht. Laute das Ziel der Vergütungstransparenz, „ein Mehr an Harmonie und fairem Miteinander zu bewirken“, müssten bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein. Dazu zähle die Verfahrensgerechtigkeit bei der Einstufung der Vergütung sowie der weiteren Gehaltssteigerungen. Die gewünschte Wirkung der Gehaltstransparenz könne sich nur einstellen, wenn die Verhältnisse im Unternehmen als fair wahrgenommen werden. Allerdings sei Fairness immer relativ. „Für jeden und jede muss deutlich sein, wie man die Höhe des Gehalts selbst beeinflussen kann.“

Missgunst und Neid entgegenwirken

Nicht nur die Effekte völliger Gehaltstransparenz seien kaum vorhersehbar, auch „impliziert das Vorgehen nicht zwangsläufig eine empfundene Gerechtigkeit oder wahrgenommene Fairness“, ergänzt Stefan Diestel. Der Grund: „Vergütungsfairness beurteilen Menschen nach dem Resultat ihres Einsatzes im Verhältnis zum Resultat des Einsatzes von anderen.“ Im positiven Fall führe die Einschätzung dazu, dass Menschen zufrieden sind. Sie akzeptieren, dass andere Gehälter höher oder wesentlich höher sind, wenn diese Personen mehr leisten beziehungsweise für die Wertschöpfung der Organisation erkennbare Schlüsselbeiträge leisten. Im negativen Fall führe die eigene Abwägung zu Neid und Missgunst.

Daher müsse gewährleistet sein, dass die Transparenz eine faire Zusammenarbeit nicht stört. „So ist zum Beispiel denkbar, dass eine Führungskraft, deren höheres Gehalt allen bekannt ist, von Mitarbeitenden weniger oder keine Unterstützung erhält, weil die sich wiederum denken, der oder die ist so gut bezahlt, also sollen sie es alleine hinbekommen“.

Hier greife das Konzept des Perceived Organisational Supports: Es beschreibt das Ausmaß der Wertschätzung und Hilfestellung durch die eigene Organisation. Zu der Vielzahl von Faktoren, die Einfluss auf das Organisationsklima nehmen und dauerhaft auf die Qualität der Zusammenarbeit wirken, zählen auch Gehaltsunterschiede. „Solche oft als ungerechtfertigt wahrgenommen Diskrepanzen erfordern eine Führung, die in der Lage ist zu erklären, dass Gehaltsunterschiede auch Leistungsunterschiede widerspiegeln.“ Stefan Diestels Empfehlung: „Transparenz mit Blick auf Fairness abseits von Open Salaries können Unternehmen auch durch andere Instrumente erreichen, wie zum Beispiel durch Mitarbeiterbeteiligungsmodelle. Oder durch mehr Autonomie der Beschäftigten in ihrer Rolle.“

Info

Christiane Siemann ist freie Wirtschaftsjournalistin und insbesondere spezialisiert auf die Themen Comp & Ben, bAV, Arbeitsrecht, Arbeitsmarktpolitik und Personalentwicklung/Karriere. Sie begleitet einige Round-Table-Gespräche der Personalwirtschaft.