Die Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen nehmen seit Jahren in allen Berufsgruppen zu. Das belegen Statistiken der Krankenkassen wie der AOK und der Techniker Krankenkasse. Auch steigt die Zahl der medizinischen Rehabilitationsmaßnahmen infolge psychischer Leiden. Deren Zahl hat sich in den Jahren 2002 bis 2022 von 92.000 auf 171.000 fast verdoppelt. Das belegt der Bericht Erwerbsminderungsrenten im Zeitablauf der Deutschen Rentenversicherung.
Diese Entwicklung beeinflusst auch die Erwerbsminderungsrenten. Der Anteil der vorzeitigen Rentenzahlungen infolge psychischer Erkrankungen am Gesamtvolumen der genehmigten Renten ist in den vergangenen 20 Jahren von 24,2 Prozent auf 43,3 Prozent (2023) gestiegen. Das entspricht einem Anstieg von knapp 75 Prozent. Psychische Erkrankungen sind mittlerweile der häufigste Grund für eine Berufsunfähigkeit.
Hohe Einbußen bei Erwerbsminderung oft nicht bekannt
Allerdings ist nur wenigen Führungskräften bewusst, wie gravierend sich finanzielle Einbußen aufgrund psychischer Erkrankungen auf ihre Rentenzahlungen auswirken können. Der Coachinganbieter Don’t Call Me Sick! hat die möglichen Verluste anhand fiktiver Erwerbsbiografien errechnet. Das Ergebnis: Die Einbußen können sich bis zu fünfstelligen Beträgen summieren. Die genaue Summe hängt dabei von vielen Faktoren ab, etwa dem Zeitpunkt des Eintritts der Erwerbsminderung, der Position der erkrankten Person und ob diese in Voll- oder Teilzeit beschäftigt war.
Um die Einbußen auszurechnen, hat der Dienstleister exemplarisch verschiedene Berufsbilder herangezogen: eine Stationsleitung in einer Klinik, einen Geschäftsstellenleiter in einer Versicherung, eine Filialleiterin im Einzelhandel, einen Bauleiter, einen IT-Manager und eine Bankzweigstellenleiterin. Diesen Personas hat er unterschiedliche Karrieren zugeordnet, vom Anfänger über Midlevel und Senior bis hin zur Führungskraft, und deren Gehaltsentwicklung an den Zahlen orientiert, die die Bundesagentur für Arbeit in ihrem Entgeltatlas veröffentlicht hat. Da Menschen im Durchschnitt mit etwa 53 Jahren eine Erwerbsminderungsrente beantragen, geht der Coachinganbieter bei seinen Berechnungen auch von diesem Alter aus.
Das Ergebnis: Ein Bauleiter, der mit 53 Jahren erwerbsgemindert ist, muss mit rund 50.000 Euro Einbußen pro Jahr rechnen. Dieser Wert ergibt sich aus der Differenz seines Jahreseinkommens und seiner Erwerbsminderungsrente pro Jahr. Eine Filialleiterin im Einzelhandel muss Einbußen von rund 30.000 Euro pro Jahr in Kauf nehmen. Über die Jahre können somit Einbußen im sechsstelligen Bereich entstehen, etwa 680.000 Euro für eine Geschäftsstellenleitung. „Grundsätzlich haben alle, die durch Erwerbsminderung vorzeitig in Rente gehen, erhebliche finanzielle Einbußen zwischen 60 und 68 Prozent im Vergleich zum letzten Einkommen“, heißt es in dem Bericht des Dienstleisters.
Teilzeitarbeit senkt Erwerbsminderungsrente deutlich
Besonders viel Geld verlieren Beschäftigte, die während ihres Berufslebens zeitweise in Teilzeit gearbeitet haben, um sich um Kinder zu kümmern oder Angehörige zu pflegen. „Bei den Erwerbspersonas, denen phasenweise Teilzeit zugeordnet wurde, liegen die Verluste zum Teil um 8 Prozent höher als bei den Vergleichspersonen, die eine kontinuierliche Vollzeitkarriere vorweisen können“, so ein Ergebnis der Berechnungen.
Konkret heißt das für einen IT-Manager, der fünf Jahre aufgrund einer Pflegeaufgabe in der Familie nur 20 Stunden in der Woche gearbeitet hat und später aufgrund einer psychischen Erkrankung frühzeitige aus dem Berufsleben ausscheidet: Er verliert 68 Prozent seines möglichen Einkommens – bis zu seinem 67. Lebensjahr sind das knapp 770.000 Euro. Die durch Pflege erworbenen Rentenpunkte gleichen diesen Verlust nicht aus.
Noch schlechter ist die Situation, wenn Beschäftigte zu 100 Prozent erwerbsgemindert sind und in den Jahren ab Eintritt der Erwerbsminderung bis zu Beginn der Altersrente keine weiteren Rentenpunkte sammeln können. Dann verlieren sie durch eine psychische Erkrankung nicht nur Gehalt, sondern es bleibt auch im Alter bei der niedrigen Rente.
HR sollte Mitarbeitende informieren
Gerade Führungskräfte sind in ihrem Arbeitsleben oft stark belastet und damit einem erhöhten Risiko für langfristige Ausfälle aufgrund einer psychischen Erkrankung ausgesetzt. HR kann die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf die mögliche Versorgungslücke hinweisen. Katja Söhner-Bilo, Business-Health-Coach bei Don’t Call Me Sick!, ist überzeugt, dass HR mit den finanziellen Auswirkungen und rentenrechtlichen Konsequenzen einer Langzeiterkrankung oder Erwerbsminderungsrente in groben Zügen vertraut ist. Sie empfiehlt: „Mit diesem Wissen kann HR Informationsmaterial zusammenstellen und die Beschäftigten auf diese Themen aufmerksam machen.“

Wichtig sei auch, bei allen Rückkehr- oder Wiedereingliederungsgesprächen das Thema mentale Gesundheit anzusprechen. HR kenne zwar den Grund für Krankschreibungen in der Regel nicht, wisse aber aus den Statistiken, dass psychische Erkrankungen die meisten Fehltage verursachen. Auch weiß HR, dass sich die Betroffenen in vielen Unternehmen nicht trauen, über ihre mentalen Probleme zu sprechen. „Deshalb ist es wichtig, dass HR hier die Initiative ergreift. Wir müssen diese Themen und Zusammenhänge mehr zur Sprache bringen“, so Söhner-Bilo.
Mit BGM psychischen Erkrankungen vorbeugen
Die Expertin geht noch weiter: Nach ihrer Ansicht sollten Unternehmen frühzeitig im Rahmen des betrieblichen Gesundheitsmanagements (BGM) ansetzen. Da Stress oft durch berufliche Belastungen entsteht, können Unternehmen psychischen Erkrankungen vorbeugen: „In diesem Bereich kann die Unternehmensseite einen Beitrag zur Vorsorge leisten und aktiv in die mentale Gesundheit Ihrer Mitarbeitenden investieren.“ Das lohnt sich für Unternehmen, denn laut der Expertin können Unternehmen für Geld, das in das BGM fließt, einen Return on Investment von 100 Prozent ansetzen.
Bis Ende März freiwillige Rentenbeiträge einzahlen
Ein weiterer Tipp, den viele nicht kennen: Bis Ende März jedes Jahres können rückwirkend für das Vorjahr freiwillige Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung geleistet und damit Rentenpunkte gesammelt werden, die auch bei einer eventuellen Erwerbsminderungsrente von Bedeutung sind. Auch hier gilt: HR könne mit seinem Hintergrundwissen Beschäftigten Anregung und Unterstützung bieten, sich über den eigenen Versicherungsstatus zu informieren, beraten zu lassen und rechtzeitig Vorsorge zu treffen. „Wenn die Erwerbsminderung erst einmal da ist, können in der Regel keine Ausgleichszahlungen mehr an den Rententräger geleistet werden, um die eigenen Rentenpunkte aufzustocken“, warnt Söhner-Bilo. Aus ihrer Erfahrung schieben gerade junge Beschäftigte im Unternehmen oder Frauen, die Teilzeit arbeiten, das Thema Erwerbsminderungsrente weit von sich weg. „Dabei ist niemand vor Erkrankungen gefeit.“
Informationen zu nachträglichen Beitragszahlungen zur Rentenversicherung gibt es bei der Deutschen Rentenversicherung. Wie sich die Nachzahlungen im Einzelfall auf eine mögliche Erwerbsminderungsrente auswirken, muss individuell berechnet werden. Doch gerade für Teilzeitkräfte könnten Nachzahlungen sinnvoll sein, da sie laut den oben genannten Berechnungen von den höchsten Verlusten betroffen sein werden.
Kirstin Gründel beschäftigt sich mit den Themen Compensation & Benefits, Vergütung und betriebliche Altersvorsorge. Zudem kümmert sie sich als Redakteurin um das Magazin "Comp & Ben". Sie ist redaktionelle Ansprechpartnerin für das Praxisforum Total Rewards.

