Um Mitarbeiterbindung zu fördern, braucht es Neugier. Denn wenn Menschen ein Unternehmen verlassen, liegt das laut einer Studie des HR-Software-Unternehmens Personio aus dem Sommer 2021 eher selten, wie von vielen Personalerinnen und Personalern vermutet, am Offensichtlichen, etwa einer schlechten Work-Life- Balance oder am Gehalt. Aber woran dann? Um diese Frage zu beantworten, kann ein Blick auf die Psychologie der Mitarbeiterbindung hilfreich sein. Laut dem Dorsch-Lexikon für Psychologie gehen Menschen eine enge Beziehung ein, um Fürsorge zu erfahren, geschützt zu sein und sich in einem sicheren Rahmen weiterentwickeln zu können: Das passt zu den Ergebnissen der angesprochenen Personio-Studie. Demnach ziehen Beschäftigte vor allem wegen fehlender Aufstiegsmöglichkeiten und mangelnder Wertschätzung der eigenen Arbeit eine Kündigung in Betracht.
Der Sozialpsychologe Rolf van Dick, Professor an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt, hat zudem gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern herausgearbeitet, dass sich Bindung verstärkt, wenn die involvierten Parteien eine soziale Identität teilen. Im Arbeitskontext heißt dies: Je stärker sich die Beschäftigten mit dem Unternehmen identifizieren, desto eher bleiben sie bei ihrem Arbeitgeber.
Zusammengefasst ergeben sich folgende Bausteine, die für die Bindung von Mitarbeitenden wichtig sind:
- Fürsorge und Schutz: Beschäftigte, die sich in ihrem Unternehmen sicher und umsorgt fühlen, bleiben ihm länger erhalten.
- Entwicklungsmöglichkeiten: Wer sich weiterbilden oder eine nächste Karrierestufe erreichen kann, ist dem Arbeitgeber eher verbunden.
- Soziale Identität: Arbeitnehmende, die sich mit ihrer Organisation identifizieren, sind stärker an ihr Unternehmen gebunden.
Um die Mitarbeitenden an ein Unternehmen zu binden, müssen sie sich sicher und umsorgt fühlen – auch in Krisensituationen oder bei Problemen. Dafür rücken Führungskräfte bis hin zur Unternehmensführung als Bindungspersonen in den Vordergrund: Sie geben Halt und Orientierung in volatilen Zeiten. „In einer VUCA-Welt ist das Team ständig im Wandel“, sagt Frauke von Polier, Chief People Officer bei Viessmann. Umso wichtiger seien Führungsfiguren, die eine Beschützerrolle ausfüllen. CEO Max Viessmann nehme diese Rolle voll an. „Wenn mal irgendetwas ist, kann ich den Max anrufen“ – klingt wie der kurze Draht der Personalchefin zum Vorstandschef, ist aber die Aussage eines Kollegen aus dem Produktionsbereich. Für die Beschäftigten sei klar: Der CEO kümmert sich um die Mitarbeitenden und nimmt plötzlich auftretende Probleme, wenn es sein muss, selbst in die Hand.
Sicherheit braucht Vertrauen, und Vertrauen braucht Zeit – es sei denn, man nimmt die Abkürzung. „Mein Misstrauen muss man sich erst erarbeiten“ – diesen Satz des Unternehmensgründers Christoph Pliete hat sich Juliana Kortmann, Director People & Culture bei der D Velop AG (Eigenschreibweise d.velop, d. Red.), gemerkt. Die Aussage leite das Handeln der Führungskräfte und der People & Culture-Abteilung. Wichtig sei, niemanden alleinzulassen. „Alle Mitarbeitenden haben von Anfang an einen Paten oder eine Patin an der Seite, und die Türen stehen – auch virtuell – immer bei allen offen, das schließt unsere Vorstände ein.“ Um ein sicheres Umfeld zu gestalten, ist auch eine gute Fehlerkultur entscheidend, wie Elke Frank, Vorständin für HR, Recht und IT bei der Software AG mit Sitz in Darmstadt, betont: „Ich bin davon überzeugt, dass eine Bindung ans Unternehmen nur funktioniert, wenn es in der Organisation eine Kultur auf Augenhöhe gibt und Fehler nicht gleich drastische Konsequenzen nach sich ziehen.“ Allerdings sei es wichtig, aus Fehlern zu lernen.
Unterstützung bei der Zielerreichung
Ist die Basis – Sicherheit und Schutz – gewährleistet, geht es für die Mitarbeitenden darum, sich zu entwickeln und betriebliche Ziele zu erreichen. „Ein Unternehmen muss sich als Wegbegleiter durch unterschiedliche Wachstumsstadien der Mitarbeiterin oder des Mitarbeiters verstehen“, sagt Juliana Kortmann. Elke Frank stimmt zu: „Das Gefühl von Bestätigung und etwas bewegen zu können, spielt für alle Beschäftigten eine große Rolle und motiviert.“ Wo kontinuierliche Qualifizierung und Weiterentwicklung Teil der Unternehmenskultur sind, steigen die Chancen langfristiger Bindung. Doch der Aufwand ist groß: Da die Ziele der Mitarbeitenden individuell sind, muss für jeden Einzelnen und jede Einzelne herausgefunden werden, wonach er oder sie strebt.
Hier spielen laut Elke Frank Mitarbeiterentwicklungsgespräche eine essenzielle Rolle. „Für mich als Führungskraft ist es extrem wichtig, meine Mitarbeitenden zu kennen und zu wissen, was sie wollen und brauchen.“ Mitarbeiterbefragungen seien dafür zudem hilfreich. Im zweiten Schritt gelte es, diese gewünschte Entwicklung durch Förderprogramme oder Weiterbildungsmaßnahmen zu ermöglichen. Führungskräfte sollten die Beschäftigten allerdings nicht nur auf der beruflichen Ebene fördern, sondern auch auf der persönlichen. „Für die Mitarbeiterbindung braucht es einen Kulturwandel für mehr Zufriedenheit, mehr Gesundheit und mehr Resilienz jedes Einzelnen“, sagt Elke Frank.
Die Personalvorständin der Software AG hat deshalb klare Prioritäten: „Auf Augenhöhe zu kommunizieren und Empathie und Wertschätzung zu vermitteln, nehmen den Großteil meiner Zeit als Führungskraft in Anspruch“, sagt sie. „Wir versuchen aktiv, eine Vertrauenskultur aufzubauen und nachzufragen, wie es den Kollegen und Kolleginnen wirklich geht – ob in Videocalls, Telefonaten oder einer persönlichen Textnachricht.“ Zusätzlich können strukturierte Programme hilfreich sein. Bei der Software AG gibt es ein Employee Assistance Programm. „Es soll unseren Mitarbeitenden bei der Bewältigung jeglicher Art von Stress oder Krisen helfen“, sagt Elke Frank. Zudem dürften an jedem zweiten Montag keine Meetings stattfinden, und jeder vierte Mittwoch gelte als „Wellness-Wednesday“ mit Yogakursen, Tanztrainings und Ernährungsberatung.
Beteiligung ist Motivation
Doch es geht nicht nur darum, Arbeitnehmende in ihrem individuellen Wachstum zu unterstützen, sondern sie auch aktiv in die Weiterentwicklung des Unternehmens einzubringen. Bei der Software AG gibt es dafür unter anderem die sogenannten Tech Interrupts. „Das sind Initiativen, in denen sich unsere Softwareentwickler dem kreativen Denken und Entwickeln von neuen Technologien und Produktkonzepten widmen, die oftmals später umgesetzt werden“, sagt Frank. „So gestalten sie die Software AG aktiv mit.“ Bei Viessmann gibt es ein ähnliches Konzept namens Co-Kreation. Daraus entstand unter anderem die neue Unternehmensstrategie: „Mehr als tausend Mitarbeitende haben sich in crossfunktionalen Teams zusammengefunden und von groben Strategiezielen aus, die von einem Team der Geschäftsführung zusammengestellt wurden, kleinteiligere Zielsetzungen und Maßnahmen erarbeitet“, sagt von Polier.
Wer sich aktiv in den Kreationsprozess einbringt, sieht auch eher einen Teil von sich im Arbeitsergebnis. Das schafft Identifikation. „Ist diese Identifikation hoch, so empfindet der Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin das Unternehmen als Teil seiner sozialen Identität“, sagt Sozialpsychologe Rolf van Dick. Dabei identifiziere man sich mehr mit einer Organisation, wenn dort die Werte und das Purpose gelebt werden, an denen man sich selbst orientiert. Purpose und Werte müssen klar kommuniziert werden, damit Mitarbeitende sie als Identifikationspunkte wahrnehmen. „Jedes Unternehmen hat ein bis zwei Stärken, die man bespielen muss“, sagt Frauke von Polier. „Unsere Stärke ist es, dass wir in Lösungen denken und als Familienunternehmen eine Einheit sind.“
Zudem sei den meisten Mitarbeitenden bewusst, was die Mission von Viessmann ist, denn der Slogan „Wir schaffen Lebensräume für die nächste Generation“ werde immer wieder betont. Den Purpose und die Werte gelte es vor allem in wichtigen emotionalen Momenten sichtbar zu machen, den „Moments that matter“. Als Beispiel nennt von Polier eine unternehmensinterne Kampagne aus dem vergangenen Spätsommer. Unter dem Motto „Vi Reconnect“ habe die Geschäftsführung Mitarbeitende im Betrieb besucht und persönliche Nähe vermittelt. Einheit zu demonstrieren und Präsenz zu zeigen in einem besonderen Moment – seinerzeit eine Lockerung der Corona-Restriktionen –, auch das ist Führung mit im Wortsinne bleibender Wirkung.
Wie in allen Fragen von Organisation und Veränderung ist am Schluss die Kommunikation entscheidend. Darauf weist Juliana Kortmann, Director People & Culture bei D Velop, hin: „Am wichtigsten ist eine transparente Kommunikation, damit alle Mitarbeitenden sich als Teil des Ganzen fühlen, die Mission des Unternehmens kennen und die strategischen Schritte verstehen.“ Für HR ist damit entscheidend, den Prozess der Bindung sehr stark auch kommunikativ zu denken und zu komponieren. Das braucht Zeit und Ressourcen – doch wer Mitarbeitende binden will, kommt an einem überzeugenden Kommunikationsplan nicht vorbei.
Lena Onderka ist redaktionell verantwortlich für den Bereich Employee Experience & Retention – wozu zum Beispiel auch die Themen BGM und Mitarbeiterbefragung gehören. Auch Themen aus den Bereichen Recruiting, Employer Branding und Diversity betreut sie. Zudem ist sie redaktionelle Ansprechpartnerin für den Deutschen Human Resources Summit.