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Mentoring: „Es braucht Strukturen, damit alle ständig voneinander lernen“

Personalwirtschaft: Frau Kukereit, Sie sind eine Verfechterin des Allround-Mentorings. Was genau bezeichnet der Begriff?
Anne Kukereit: Darunter versteht man, dass alle Mitarbeitenden voneinander lernen, und zwar jeder von jedem.

Soll das auf natürlichem Weg von allein geschehen oder müssen Arbeitgeber dafür gezielt Strukturen schaffen?
Beides. Freie Wissensaneignung passiert auf natürliche Weise, wenn man mit einem offenen Visier seinen Job ausübt. Allerdings ist das erhaltene Wissen meist nicht so groß, wie es sein könnte, wenn Unternehmen gezielt Strukturen und Raum für Allround-Mentoring schaffen. Die Strukturen ermöglichen es beispielsweise auch, Kolleginnen und Kollegen, die introvertierter sind und nicht von sich aus danach fragen, von Weiterentwicklungsangeboten profitieren zu lassen.

Wie können solche Strukturen aussehen?
Das können Onboarding-Mentoring-Paare sein oder Entwicklungsgespräche, in denen die jeweilige Weiterentwicklung bewusst besprochen und geplant wird. Viele Unternehmen geben Mitarbeitenden im Onboarding-Prozess Buddies – also Menschen, die bereits länger im Unternehmen tätig sind – an die Seite. Ihnen gegenüber können die Neuen Themen ansprechen und Fragen stellen.

Wie sieht es später aus?
Dann sind fachliche Entwicklungsgespräche ein wichtiges strukturelles Element für das Allround-Mentoring. Um die Gespräche vorzubereiten, gibt es bei uns ein Selbstcoaching-Tool, in dem die Mitarbeitenden über Fragen dazu angeregt werden, über ihre eigene Entwicklung und das, was sie wollen, nachzudenken.

Um welche Fragen geht es dabei?
Das sind Fragen wie: Hast du in letzter Zeit Feedback von deinen Kolleginnen und Kollegen eingeholt? Bei welchen Tätigkeiten kommst du in einen Flow? Bei welchen Tätigkeiten langweilst du dich? Parallel zum Selbstcoaching-Tool nutzen wir Tools, mit denen man herausfinden kann, wo die eigenen Stärken liegen – wie etwa den Clifton Strength-Test von Gallup. Beide Tools kombinieren wir und lassen regelmäßige Gespräche mit der fachlichen Teamleitung folgen, in denen Austausch und Sparring zu den Weiterentwicklungsthemen stattfindet.

Was geschieht während der Gespräche?
In den Gesprächen redet der Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin mit der Führungskraft über seinen oder ihren Ist-Stand. Gemeinsam legen beide Ziele und Maßnahmen fest, um diese zu erreichen.

Wie gelingt es, dass diese Maßnahmen auch wirklich angegangen werden und nicht im Alltagsgeschäft in den Hintergrund treten?
Wir planen die Entwicklung genauso ein wie Projekte. Wenn es darum geht, die Arbeitszeit einzuteilen, hat sie den gleichen Stellenwert. Außerdem sind die Weiterentwicklungsmaßnahmen bei uns oft an die Projekte gekoppelt.

Inwiefern?
Möchte ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin neue Skills lernen, bekommt er oder sie die Möglichkeit, in einem Projekt mitzuarbeiten, in dem die neuen Fähigkeiten gefördert werden. Das ist quasi ein Training im täglichen Tun und durch den Austausch unter Kolleginnen und Kollegen.

Findet Mentoring immer nur eins zu eins statt?
Nein, bei Retrospektiven beispielsweise werden mehr Menschen einbezogen. Und Retroperspektiven gelten für mich auch als eine Form des Mentorings, denn dabei wird im Team gemeinsam über den Ist-Zustand reflektiert und zusammen nach Maßnahmen zur Lösung von Hürden gesucht. Dabei stehen Fragen wie „Was ist gut gelaufen?“, „Was ist schlecht gelaufen?“,  „Wo sind wir meiner Meinung nach falsch abgebogen?“ und „Wie können wir es nächstes Mal besser machen?“ im Fokus. All das sind Fragen, die die Weiterentwicklung des Einzelnen, aber auch des Teams fördern.

Es fällt nicht immer leicht, ehrliches Feedback zu geben und zu erhalten. Wie gelingt es, dass Mitarbeitende offen über ihre Schwachstellen sprechen und sie als Ausgangspunkt für eine Weiterentwicklung statt als einen persönlichen Fehler wahrnehmen?
Hierfür ist Vertrauen die wichtigste Grundhaltung. Es braucht psychologische Sicherheit, damit Mitarbeitende ihre Fehler anschauen, kommunizieren und rückmelden, wo sie Nachholbedarf haben. Arbeitgeber müssen vermitteln, dass das Eingestehen von Schwachstellen und ein kontinuierliches Lernen nur von Vorteil sind und keinerlei negative Konsequenzen haben. Es sollte allen klar sein, dass uns Fehler und die Erkenntnisse daraus entscheidend weiterbringen. Wir scheitern uns nach vorne.

Möchten sich aber wirklich alle Mitarbeitenden weiterentwickeln? Gibt es nicht auch solche, die lieber durchgehend alles so wie immer machen möchten?
Ich glaube, dass nicht jeder Mensch gleichermaßen einen Wunsch nach Weiterentwicklung hat. Bei jemandem, der innerlich gekündigt hat, können Sie sich quer in die Luft legen und können ihn oder sie dennoch nicht überzeugen. Wenn das aber nicht der Fall ist, gibt es zahlreiche Möglichkeiten, die Menschen zur Weiterentwicklung zu motivieren.

Welche sind das?
Wir sagen diesen Menschen: Um deinen Status quo zu erhalten, musst du dich – wenn auch nur minimal – weiterentwickeln. Denn Mitarbeitende müssen nicht gleich einen Stabhochsprung machen, aber zumindest versuchen, das eigene Level zu erhalten. Zudem machen wir klar, dass eine Weiterentwicklung nicht unbedingt heißt, dass man Karriere im Sinne von „Erklimmen von Hierarchiestufen“ machen muss. Vielmehr geht es darum, wo der oder die Einzelne Verantwortung übernehmen mag.

Was genau heißt „Verantwortung übernehmen“ in diesem Sinne?
Mitarbeitende nehmen neue Rollen ein und lernen, neue Dinge zu tun – und zwar solche, die sie sich selbst wünschen. Wir gestalten Rollen flexibel – gemeinsam mit den Mitarbeitenden – und fragen sie, wie sie sich weiterentwickeln möchten. Das macht es ihnen leichter, die eigene Weiterentwicklung in die Hand zu nehmen und wirksam zu werden.

Allround-Mentoring baut darauf auf, dass jeder und jede sich wohl in der Mentorenrolle fühlt und diese einnehmen möchte. Was, wenn Beschäftigte das aber nicht möchten?
Ich würde keinen dazu drängen, die Mentorinnen- oder Mentorrolle anzunehmen. Wenn sich Mitarbeitende aber nur unsicher fühlen und sich eigentlich vorstellen können, Mentor oder Mentorin zu sein, dann coachen wir sie und zeigen ihnen, wie sie wiederum andere Menschen coachen können.

Lebt Allround-Mentoring davon, dass alle von ihnen vorgestellten Möglichkeiten zur Wissensaneignung parallel stattfinden?
Jein. Anfangs kann man sich zunächst – je nach Zielen – auf einzelne Tools fokussieren. Später ist es aber hilfreich, viele Weiterbildungsmöglichkeiten parallel anzubieten und zu leben, denn nur so können Mitarbeitende auf allen Ebenen ständig wachsen. Das fördert auch die Mitarbeitendenbindung. Denn wer seinen Mitarbeitenden Weiterentwicklung bietet, gibt ihnen einen Wert, der bei ihnen bleibt und der besser ist als Geld oder klassische Benefits.

Info

Lena Onderka ist redaktionell verantwortlich für den Bereich Employee Experience & Retention – wozu zum Beispiel auch die Themen BGM und Mitarbeiterbefragung gehören. Auch Themen aus den Bereichen Recruiting, Employer Branding und Diversity betreut sie. Zudem ist sie redaktionelle Ansprechpartnerin für den Deutschen Human Resources Summit.