Abgesperrte Bereiche und lange Wartezeiten auf die Bedienung. Den Personalmangel in der Gastronomiebranche bemerken je nach Personaldecke im Lieblingsrestaurant viele von uns unmittelbar. Wie angespannt die Lage hinter den Wänden zu den Privaträumen ist, zeigte jüngst die medienstarke Schließung des dänischen Spitzenrestaurants Noma und die erklärenden Worte dessen Chefs: „Wir müssen die Branche komplett neu denken. Das ist einfach zu hart, wir müssen anders arbeiten.“ Unter anderem gegenüber der New York Times sprach René Redzepi von Arbeitsbedingungen in Spitzenrestaurants – auch den Seinigen –, die alle Gastronomieangestellten und Arbeitgeber der Branche finanziell und emotional so nicht mehr (lange) tragen können. „Das ist nicht nachhaltig“, sagte er.
Doch stehen diese Beispiele wirklich repräsentativ für die Gastronomiebranche? Hat der Fachkräftemangel die Wucht, die dortigen Arbeitsbedingungen, die Berichten zufolge katastrophal sind, noch einmal zu verschlimmern?
Einige wanderten in andere Branchen
Wie steht es konkret um den Fachkräftemangel in dieser Branche? Derzeit gibt es laut einer Statistik der Bundesagentur für Arbeit in der Gastronomie- und Hotelleriebranche zusammen rund 42.000 offene Stellen. „Das sind nicht mehr als zu dieser Jahreszeit üblich“, sagt Sandra Warden, Geschäftsführerin vom Deutschen Hotel- und Gaststättenverband DEHOGA. „Aber mehr als vor zehn Jahren.“ Doch die Zahlen würden die Realität nur sehr bedingt wiedergeben. Viele Arbeitgeber in der Gastronomie melden ihre offenen Stellen nicht bei der Bundesagentur für Arbeit, weil sie über diese oft keine neuen Mitarbeitenden finden würden. „Wir schätzen, dass in Wirklichkeit doppelt so viele Stellen offen sind“, sagt Warden. „Unsere Mitglieder nehmen wahr, dass sich die Mitarbeiterknappheit zuspitzt.“
Grund dafür ist zum einen der demografische Wandel, zum anderen die Abwanderung vieler Minijobber. Sie sind während der Lockdowns in andere Branchen gewechselt. Laut einer Untersuchung des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) aus dem Jahr 2022 haben rund 216.000 Menschen 2020 der Gastronomiebranche den Rücken zugekehrt. Sie haben neue Arbeitgeber im Einzelhandel oder der Logistik gefunden. „Den Großteil der sozialversicherungspflichtigen Mitarbeitenden konnten wir durch Kurzarbeit allerdings halten“, sagt Warden.
Das scheint keine schlechte Bilanz zu sein, gerade auch in Zeiten, in denen Arbeitgeber in der Gastroszene nicht nur mit anderen Gastronomen um Fachkräfte konkurrieren, sondern auch mit Unternehmen aus anderen Branchen. Dass dann doch einige Mitarbeitende in der Branche gehalten werden konnten, hat einen Grund: Sie zeigt sich derzeit so wandelbereit wie selten zuvor. Lohnerhöhungen, neue Arbeitszeit- und Führungsmodelle, kreative Marketing-Aktionen. „Bei uns wird derzeit viel mit individuellen Lösungen experimentiert“, sagt Warden. Der Lohnanstieg war nicht immer nur eine unternehmensinterne Entscheidung, sondern auch durch die Mindestlohnerhöhung im Herbst vergangenen Jahres sowie Tarifverhandlungen, aus denen ein Tariflohnanstieg im zweistelligen Bereich resultierte (je nach Region fiel dieser unterschiedlich aus), bedingt. Derzeit liegt der durchschnittliche Bruttolohn im Gastgewerbe laut einer Stepstone-Analyse bei 34.200 Euro jährlich.
Langsames Ablösen von alten Arbeitsmodellen
Für die neue Bewegung innerhalb der Gastronomie-Szene steht unter anderem Jan-Patrick Timmer, Geschäftsführer von High Food, einem Institut für Angewandte Gastronomie. Er vertritt die Ansicht: „Die Gastronomie muss New Work lernen.“ Die Transformation dahin habe vielerorts begonnen, sei aber in den meisten Betrieben noch in den Kinderschuhen. „Rund 80 Prozent der Betriebe sind gefühlt noch in den 60er-Jahren stecken geblieben“, sagt Timmer, der selbst mehr als zwölf Jahre als Servicekraft arbeitete, bevor er sich mit High Food selbstständig machte. Das heißt: In den Restaurants sind starke „Ego-Shows“ der Führungskräfte zu beobachten. Sie managen ihre Teams, die sie oftmals distanziert als „Personal“ bezeichnen und nicht als Kolleginnen und Kollegen, diktatorisch und in einem militärischen Stil.
Schichtarbeit und die harte, körperliche Tätigkeit sowie ein Lohn, der trotz Erhöhungen je nach Gastronomiebetrieb nicht selten am unteren Ende der Einkommensstufen ist, machen die Arbeitsbedingungen nicht wirklich attraktiver. In die Arbeitskräfte wird nicht investiert – als Menschen werden nur die Gäste, nicht aber die Mitarbeitenden gesehen. Denn das Geld ist knapp, will man die Ware doch möglichst günstig verkaufen, um am Markt mithalten zu können. Da bleibt nicht viel übrig, um in die eigene Belegschaft zu investieren. So gibt Timmer die Ansicht vieler Gastronomen wieder. Dass es Arbeitgeber in der Gastronomie schwerer haben, Personalkosten und Einnahmen auszugleichen, belegen auch statistisch erhobene Zahlen. „Der Einzelhandel macht fünfmal mehr Umsatz pro Beschäftigtem als das Gastgewerbe“, gibt Warden von der DEHOGA diese wieder.
Wer als Arbeitgeber an diesen Bedingungen festhält, sei Timmer zufolge selbst schuld, wenn seine Mitarbeitenden zur Konkurrenz gehen. „Ich kann mich um 18 Uhr mit meinem Chef streiten und habe um 19 Uhr einen neuen Job“, fasst er die aktuelle Arbeitsmarktsituation in der Gastronomie zusammen. Ein unlösbares Dilemma und undurchbrechbarer Teufelskreis sei es folglich nicht.
Wenn Gastro-Inhaber also nicht wollen, dass die Mitarbeitenden anderswo arbeiten, müssten sie die Unternehmenskultur ändern und innovative Produkte anbieten. Dann komme das Geld schon von selbst wieder rein. Statt eines diktatorischen Chefs sollten Mitarbeitende mitbestimmen und Schichtpläne selbst erstellen. Statt starren Schichten sollten Arbeitszeiten flexibilisiert werden. Statt kaum Gehalt zum Leben zu zahlen, sollten die Löhne erhöht werden.
Faires Gehalt, Wertschätzung und Weiterentwicklung
Das hat vor einigen Jahren auch Gastronom Alexander Scharf verstanden. Er besitzt und leitet drei Restaurants, ein Café, eine Bar sowie ein Hotel und führt rund 100 Mitarbeitende. Den notwendigen Wandel, den Timmer beschreibt, durchlebte Scharf am eigenen Leib. Er stieß an seine Grenzen, verlor Mitarbeitende, seine Betriebe verzeichneten schlechte Zahlen. Er merkte: So kann es nicht weitergehen. Was folgte, waren lange Abende am Esstisch mit seinen Führungskräften. „Wir haben in langen Gesprächen aufgearbeitet, was bei uns schiefläuft“, erinnert er sich. Heraus kam eine klare Agenda, die auf drei Eckpfeilern aufbaut: faire Honorierung, Wertschätzung und Weiterentwicklung.
Obwohl er es sich nicht leisten konnte, hat er das Gehalt seiner Mitarbeitenden erhöht, allerdings mit einer klaren Vereinbarung mit ihnen, denn eine gute Unternehmenskultur präge sich durch ein Geben und Nehmen. Scharfs Angebot an seine Mitarbeitenden war: Du bekommst mehr Lohn und hilfst mir dafür dabei, mehr Umsatz zu machen. In Zahlen ausgedrückt heißt das: 2.500 Euro brutto als Einstiegsgehalt für einen Koch und 2.300 Euro für eine Service-Kraft. Zuvor war das Gehalt der Mitarbeitenden an Stundenverträge gebunden und lag etwas über dem Mindestlohn. „Mein Steuerberater meinte zu mir, ich spinne“, sagt Scharf. Doch sein Wagnis verhalf ihm zum Erfolg. 2022 habe das Unternehmen gegenüber 2018 eine Umsatzsteigerung von 10,5 Prozent und gegenüber 2019 von 5,6 Prozent verzeichnet.
Neben der Lohnerhöhung half dabei auch ein neues Miteinander im Team und einer neuen methodischen Herangehensweise bei der Ausbildung von Nachwuchskräften. Ein gutes Miteinander basiere auf Anerkennung. „Ich musste für mich selbst zunächst herausfinden, was Wertschätzung bedeutet, um sie meinem Team geben zu können“, sagt der Gastronom. „Das klappt schon durch kleine Dinge. Ich gehe fast täglich durch meine Läden, begrüße das Team und gebe den Mitarbeitenden ein gutes Gefühl.“ Auch seien er und seine Führungskräfte im ständigen Austausch mit den Mitarbeitenden, Schichtpläne werden gemeinsam erstellt, gegenseitige Erwartungen und Wünsche kommuniziert und fehlende Qualifikationen durch Weiterbildungsangebote vermittelt.
Arbeitgeber müssen die junge Generation verstehen
Letzteres ist gerade auch vor dem Hintergrund wichtig, dass jüngst immer mehr junge Talente Ausbildungen in der Gastronomie abbrachen. Der Grund: Der jungen Generation sind andere Dinge wichtig als den älteren Mitarbeitenden. „Die jungen Menschen sind sinn- und nicht leistungsgetrieben und manchmal fehlt es ihnen auch an Schlüsselkompetenzen“, sagt Scharf. „Dementsprechend müssen wir ihnen auch Inhalte vermitteln, die ihnen nicht nur im beruflichen Kontext, sondern auch im Privatleben helfen, sich weiterzuentwickeln.“ Das will gelernt sein – und muss von Ausbilderinnen und Ausbildern trainiert werden. Scharf und sein Team bringen ihnen bei, wie sie fachliche und soziale Kompetenzen weitergeben, aber auch, wie sie Inhalte in einer, wie er es nennt, „themenzentrierten Interaktion“ spielerisch und erlebnisorientiert lehren.
Dafür müssten sich die Ausbilder und Ausbilderinnen zunächst damit beschäftigen, wie ihr eigenes Menschenbild ist und wie sie Feedback annehmen und geben können. Dieselben Aufgaben wiederum stellen sie den Azubis, um deren soziale Fähigkeiten zu verbessern. So würde die Ausbildung auch auf das Leben außerhalb des Arbeitsplatzes eine positive Wirkung haben. „Arbeit soll als sinnvolle Zeit wahrgenommen werden“, sagt Scharf. „Wir leisten auch einen Beitrag zum Privatleben der Mitarbeitenden. Was sie bei uns lernen, hilft ihnen dabei, Defizite zu kompensieren.“ Doch nach der Ausbildung soll die Weiterentwicklung der Beschäftigten nicht aufhören. Scharf und sein Team schicken interessierte Mitarbeitende zu Qualifizierungsprogrammen wie etwa einer Ausbildungseignung, Führungskräfte- oder Persönlichkeitsentwicklungstrainings. Daran teilzunehmen sei notwendig, um Karriere in seinem Team machen zu können.
Es geht um Begeisterung
Bei all dem dürfe Scharf zufolge eine Sache nicht fehlen: Die Erinnerung daran, was die Gastronomie-Branche ausmacht. Das sieht auch Jan-Patrick Timmer von High Food so. „Wir zaubern Speisen für unsere Gäste, bescheren ihnen eine gute Zeit und bekommen menschliche Geschichten mit“, sagt er. „Wenn wir mit unseren Produkten experimentieren, kreative neue Kochmethoden ausprobieren, dann macht das einen unglaublichen Spaß.“ Es geht um Begeisterung, die Arbeitgeber bei ihren Mitarbeitenden der Gastronomie-Branche wieder wecken sollen und mit ihrem ganz individuellen Betrieb neue Talente anziehen können.
Dass die Gastronomie nicht verkommt, sondern neue Wege findet, zeigt auch die neue Ausrichtung des dänischen Spitzenrestaurants Noma. Ja, das Restaurant schließt, stattdessen betreibt der Inhaber zukünftig aber ein „Lebensmittellabor“ und will neue Gerichte per E-Commerce vertreiben.
Lena Onderka ist redaktionell verantwortlich für den Bereich Employee Experience & Retention – wozu zum Beispiel auch die Themen BGM und Mitarbeiterbefragung gehören. Auch Themen aus den Bereichen Recruiting, Employer Branding und Diversity betreut sie. Zudem ist sie redaktionelle Ansprechpartnerin für den Deutschen Human Resources Summit.