Traditionelle Hierarchien, Organigramme in Pyramidenform mit immer mehr Entscheidungs-macht und -pflichten, je weiter es nach oben geht – das ist mitten in der globalen Transformation der Arbeitswelt nicht mehr zeitgemäß. Doch wie kann Führung neu und anders definiert werden? Das war die zentrale Frage der 11. Agile HR Conference von HR Pioneers, die am 27. und 28. April in Köln stattfand. „Anstiftung zur Führung“ lautete das Leitmotiv der Veranstaltung. 200 gut gelaunte Gäste verfolgten vor Ort Vorträge, Fragerunden und interaktive Sessions, 250 weitere nahmen online teil.
Keynote: Führung verteilen
André Häusling, Gründer und Geschäftsführer der HR Pioneers, definierte in seinem Impuslvortrag die wesentlichen Herausforderungen, vor denen Führungskräfte heute stehen: Das alte Rollenverständnis von Führungskräften funktioniert nicht mehr – aber eine klare Vorstellung von den Aufgaben und Erwartungen an sie gibt es auch nicht. Um Führung in einer zunehmen komplexen Welt neu zu organisieren, müsse sie verteilt werden, erklärte Häusling. Aspekte wie disziplinarische und prozessuale, strategische und fachliche Verantwortung sowie Menschenführung könnten kaum noch von einer einzigen Person geleistet werden. Bei verteilten Führungsaufgaben sollten Führungskräfte sich auf ihre Stärken konzentrieren – dezidierte Rollenbilder würden zudem eine Professionalisierung der Führung ermöglichen. Der HR-Pioneers-Gründer machte klar, was Führungskräfte heute und morgen brauchen: Agile Methodenkompetenz, Veränderungs- und Kommunikationskompetenz, die Fähigkeit zu Führung und Selbstführung und nicht zuletzt unternehmerisches Talent.
Vorreiter SAP
Wo Strukturen neu gedacht werden, ist SAP meist unter den Vorreitern. Rund 40 Führungstandems gebe es im Unternehmen, berichtete Nicole Häffner, HR Learning & Development Expert bei dem Softwareunternehmen. Verteilte Führung fände sich besonders in Bereichen, die gelernt hätten, dass Komplexität dadurch besser handhabbar sei. Es sei zum einen eine Möglichkeit, Überforderung der Führungskräfte zu begegnen und ihre Aufgaben besser handhabbar zu gestalten.
Wie wichtig hier eine Verbesserung ist, zeigte sich unter anderem in dem Projekt, über das Kai Brausewetter, Senior Agile Coach und Susanne Franke, Agile Practice Team Lead, bei TUI, wiederum sprachen. Dort hatte man das Ziel ausgegeben, die Transformation des Unternehmens zu einem agilen, digitalen und kundenorientierten Reiseunternehmen voranzutreiben. Doch das Team aus Top-Führungskräften habe sich als Flaschenhals des Prozesses erwiesen. Weitere Lernerfahrung: „Führungskräfte haben wenig Bezug zur Basis, sie wollen Teamziele selbst definieren, das Loslassen fällt ihnen schwer. Außerdem sei das Beharrungsvermögen der Organisation enorm.
Dem Klischee nach gilt letzteres umso mehr in der Verwaltung und in öffentlich-rechtlichen Anstalten. Dass das nicht so sein muss, zeigten Vorträge von Magdalena M. Hoffmann, die bei der Region Hannover die Leitung des Projekts „Agile Verwaltungskultur“ inne hat, und vor allem von Stephan Hütig und Steffen Janich vom hessischen Rundfunk. Dort revolutionierten sie die bisher komplizierten und langwierigen Prozesse zur Stellenbesetzung. Jetzt landet jede freie Stelle erstmal in einem Stellenpool. Führungskräfte können dann Bedarf anmelden und sich bewerben. Statt des Intendanten entscheide jetzt eine Entscheiderrunde, die kompetenz- und hierarchieübergreifend ihre Beschlüsse treffe.
In neues Fahrwasser wagten sich auch Dunja Böckling, Leiterin OPE und Susanne Schneider, Managerin Interne Kommunikation beim Börsenverein des deutschen Buchhandels Sie gaben ungeschönte Einblicke in Hochs und Tiefs der Zusammenarbeit ihrer Abteilungen im Zuge der Unternehmenstransformation hin zu einem hybriden Arbeitsmodell. Sie sind sich einig: Zu einem echtem Kulturwandel gehört mehr, als Homeoffice für alle. Der Erfolg gab ihnen, trotz Rückschlägen, recht: „Ein Experiment wurde institutionalisiert.“ Überhaupt gehören Rückschläge eben dazu, wie immer wieder deutlich wurde im Laufe der Konferenz.
So wollte die Allianz ihren Kundenservice von der „Servicefabrik“ zum agilen Vorreiter entwickeln, wie Abteilungsleiter Thorsten Grass und sein Kollege, der Agile Master Tobias Eschmann, beschrieben. Die Abteilungskraft sei bisher stark standardisiert gewesen und es habe eine Führungskraft gegeben. Das habe sich verändern sollen: So habe es zum Beispiel mit der Einführung der Agilität im Kundenservice einen Führungskreis statt nur einer Führungskraft gegeben. Einige Mitarbeitende übernahmen neue Verantwortungen im Agile Team. Das hätten sie auch nach dem Projekt fortführen wollen, allerdings war der Führungskreis kein richtiges Team geworden und habe wenig Akzeptanz erfahren. Nach dem Abschluss der Unternehmung wünschten sich die meisten Beschäftigten wieder eine einzelne Führungskraft, an wen die sie sich wenden konnten. Zudem sei die rein virtuelle Zusammenarbeit ein Problem gewesen. Doch es gab auch ein gutes Fazit aus dem Projekt: Die Kommunikation unter den Mitarbeitenden des Kundenservice sowie mit den Führungskräften habe sich verbessert.
Über Kommunikation hatte Konferenzinitiator André Häusling auch schon in seiner Keynote gesprochen. Denn um in der Transformation zu bestehen, so Häusling, müssten Führungskräfte nicht nur lernen, sich von traditionellen Vorstellungen loszusagen, sie benötigten auch Dialogformate, um Resonanz von Mitarbeitenden zu erhalten. Sie müssten eben lernen, sich im Austausch mit anderen zu öffnen, „loszulassen“. Trotz oder wegen all der Herausforderungen und Veränderungen lautete Häuslings Kernbotschaft an die Konferenzteilnehmer in Köln und an den Bildschirmen: „Einfach loslegen!“