Personalwirtschaft: Herr Graßnick, was verstehen Sie unter einer guten Fehlerkultur?
Tjorven Niels Graßnick: Für mich bedeutet eine gute Fehlerkultur, dass es zum einen für jeden die Möglichkeit gibt, sich unter gewissen Regeln auszuprobieren. Dazu gehört auch, dass Mitarbeitende Raum haben, um Fehler zu machen und daraus zu lernen. Zum anderen muss sich jeder trauen, Dinge zu tun und anzupacken.
Und was hat das mit Agilität zu tun?
All diese Aspekte stellen auch die Basis von agilem Arbeiten dar, wo Mitarbeitende möglichst eigenverantwortlich selbst Entscheidungen treffen und Aufgaben lösen sollen. Damit gelingt agiles Arbeiten nur, wenn es eine gute Fehlerkultur im Unternehmen gibt.
Wie lernt man am besten aus Fehlern?
Indem darüber gesprochen und Hintergründe analysiert werden. Kurz: Hier geht es um Reflexion. Die ist wiederum bereits ein fester Bestandteil der Prozesse des agilen Arbeitens. In unseren Arbeitsphasen für die Produktentwicklung gibt es sogenannte Retrospektiven, bei denen wir schauen, welche Fehler bei der Zusammenarbeit passiert sind und Reviews, in denen wir über fachliche Fehler sprechen. So gehört der Umgang mit Fehlern zum normalen Arbeitsprozess dazu und wird nicht als schambehaftet unter den Teppich gekehrt. Über Fehler zu sprechen, wird zum Ritual in den Teams.
Wie kann man sich dieses Ritual genau vorstellen?
Mitglieder eines Teams, meist besteht es bei uns aus etwa sieben Mitarbeitenden, setzen sich zusammen und sprechen auf Augenhöhe darüber, wie es zu dem Fehler gekommen ist. Für diese Meetings haben wir Leitfäden erstellt, an die wir uns halten. Damit ist für jeden der Ablauf klar: Zunächst sollen Einsichten gesammelt, dann Maßnahmen oder sogar eine Risikoprävention abgeleitet werden. Bei diesem Verfahren wird schnell sichtbar, ob es ein einmaliger Fall war, wir eine tiefergreifende Analyse benötigen oder jemand unterstützt oder entlastet werden muss.
Ist diese Situation nicht unangenehm für diejenige Person, die einen Fehler gemacht hat? Schließlich diskutieren alle direkten Kolleginnen und Kollegen im eigenen Beisein darüber.
Es kann unangenehm sein, muss es aber nicht. Hier spielt die Unternehmenskultur eine ausschlaggebende Rolle. Wir als Unternehmen kommunizieren intern beispielsweise: Wir feiern Fehler! Denn sie helfen uns dabei, unsere Schwachstellen aufzuzeigen und dadurch unsere Leistung zu verbessern. Die Person, die den Fehler gemacht hat, wird als Fehlersensor und Lernbegleiter gesehen. Er oder sie hilft dabei herauszufinden, was die restlichen Mitarbeitenden anders machen müssen, damit ihnen das nicht auch passiert.
Damit interpretieren Sie Schuld in die Verantwortung um, Dinge zu verbessern.
Genau. Denn eine Fehlerkultur ist auch immer eine Lernkultur und wir lernen nur, wenn wir Fehler machen, diese analysieren und unsere Leistung entsprechend verbessern. Das gelingt aber nur, wenn für alle Mitarbeitenden klar ist: Es geht nicht um die Person, sondern um die Sache.
Das ist wahrscheinlich leichter gesagt, als getan. Was geschieht im agilen Arbeitsumfeld, wenn die Situation emotional aufgeladen ist und betroffene Parteien nicht sachlich bleiben können?
Wenn das Gespräch emotional aufgeladen ist, sollte das Problem an den agilen Coach getragen werden. Er versucht gemeinsam mit den direkt involvierten Mitarbeitenden die Situation zu analysieren und die Gemüter zu besänftigen. Manchmal hilft es hier auch, das Gespräch zu vertagen, damit die Mitarbeitenden Gelegenheit hatten, ihre Emotionen zu verarbeiten. Danach wird der Fehler im Team besprochen. So kann die jeweilige Wahrnehmung der Parteien in einen Kontext gesetzt und zurückgespiegelt oder entkräftet werden.
Das klingt nach ziemlich vielen Gesprächen und Meetings über die Zusammenarbeit, anstatt tätig zu sein. Wie vermeiden Sie bei Tesvolt, dass mehr geredet als gearbeitet wird?
Die Mitarbeitenden sollten im ständigen Austausch sein, aber gleichzeitig natürlich nicht mit Informationen überfrachtet werden. Diesen Spagat muss man hinbekommen. Es bringt ja nichts, über alles zu reden und dann keine Zeit mehr für den Kunden zu haben, der unser eigentlicher Fokus ist. Bei allem muss auch die zeitliche Effizienz bedacht werden. Wir dürfen uns nicht nur mit uns selbst beschäftigen. Unsere Fehlerkultur ist schließlich nicht Selbstzweck, sondern ist vielmehr darauf ausgerichtet, das Beste für den Kunden herauszuholen. Denn wir lernen aus unseren Fehlern, um für den Kunden das bestmögliche Produkt herzustellen.
Ist es in Unternehmen mit einer agilen Arbeitsweise leichter, eine gute Fehlerkultur zu etablieren, als in hierarchisch strukturierten Organisationen?
Ja. Auch weil in hierarchielosen Unternehmen tendenziell niemand Angst hat, jeden anderen Kollegen oder jede Kollegin anzusprechen, oder denkt, es wäre nicht angebracht, sich mit dieser Person über Fehler auszutauschen. Dadurch ist die Hemmschwelle geringer. Wenn es in einer hierarchisch strukturierten Organisation allerdings eine Offenheit und die psychologische Sicherheit gibt, für Fehler nicht bestraft zu werden, kann sich auch dort eine gute Fehlerkultur etablieren. Es muss allerdings mit mehr Aufwand Raum geschaffen werden, um auftretende Fehler zu analysieren.
Info
Tesvolt, ein global tätiger Anbieter für gewerbliche Anwendungen im Bereich Energiespeicherung. Im Unternehmen wird eigenen Aussagen nach agil und hierarchiefrei gearbeitet. Dafür sind die circa 140 Mitarbeitenden des Wittenberger Unternehmens in 16 Teams organisiert, die idealerweise aus vier bis sieben Mitarbeitern bestehen und von den Mitarbeitern selbst organisiert werden.
Lena Onderka ist redaktionell verantwortlich für den Bereich Employee Experience & Retention – wozu zum Beispiel auch die Themen BGM und Mitarbeiterbefragung gehören. Auch Themen aus den Bereichen Recruiting, Employer Branding und Diversity betreut sie. Zudem ist sie redaktionelle Ansprechpartnerin für den Deutschen Human Resources Summit.