Die schlechte Wirtschaftslage in Deutschland schlägt sich auf den Recruiting-Markt nieder: 1,55 Millionen offene Stellen gab es laut aktueller Daten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung IAB im ersten Quartal 2024. Das ist die geringste Zahl seit dem dritten Quartal 2021. Wie bewerten die Teilnehmenden am Round Table die Situation?
Wie Jan Kirchner, Geschäftsführer des Recruitingunternehmens Wollmilchsau, klarstellt, ist die Entwicklung im Kontext der vergangenen Jahre zu betrachten. „Es gibt zwar einen Rückgang der offenen Stellen seit 2021. Die Zahlen liegen aber immer noch über dem Niveau von 2019.“ Zudem sei zu differenzieren, dass nicht alle Branchen weniger offene Stellen zu verzeichnen hätten: „In der Gesundheits- und Energiewirtschaft bleibt die Nachfrage nach Mitarbeitenden hoch, wir haben hier Kundenunternehmen, die derzeit sogar deutlich mehr investieren als noch im vergangenen Jahr. Exportorientierte Branchen sind dagegen stärker betroffen und schreiben nur sehr wichtige Stellen aus“, so Kirchner.
Zudem habe der Mittelstand immer noch Personalsorgen. Insbesondere für Seniorpositionen gebe es viele Stellen zu besetzen. „Erfahrene Mitarbeitende sind weiterhin knapp“, bestätigt Wolfgang Achilles, Geschäftsführer von Jobware. Wer etwa einen Bilanzbuchhalter suche, habe es nicht einfacher als noch vor einem Jahr. „Innerhalb dieses Berufszweigs gehen einfach zu viele Menschen in Rente.“ Dagegen nimmt das Recruiting von Junioren ab, wodurch sich die Situation für die jungen Generationen ändert. „Wer heute die Hochschule verlässt, hat nicht mehr die Vorteile wie die Absolventen noch vor zwei Jahren, die bislang von Arbeitgebern stark umworben wurden“, sagt Achilles. Junge Menschen müssten sich wieder stärker um Jobs bemühen.
Weniger Stellen, mehr Bewerbungen
Positiv für viele Unternehmen insgesamt: Sie erhalten aktuell mehr Bewerbungen. „Weil viele Unternehmen restrukturieren und der Markt stark in Bewegung ist, verteilen sich jetzt in einigen Branchen teilweise mehr Bewerbende auf weniger Stellen“, so Kacper Potega. Er ist beim Jobs-Netzwerk XING für die Nutzererfahrung auf der Plattform verantwortlich und Mitglied des Leadership-Teams. In der Situation liegt seiner Ansicht nach eine große Chance für die Firmen, denn zum Teil würden sehr gute Mitarbeitende auf den Arbeitsmarkt treten, die man unter anderen Umständen abwerben müsste. Er rät, die Gelegenheit für eine strategische Talentakquisition zu nutzen. „Die Unternehmen tun gut daran, das Motto aus dem Marketing zu befolgen, nämlich dann zu investieren, wenn der Markt gerade etwas zurückhaltend ist. Wer weiß, wann sie das nächste Mal in einer Situation sind, wo es so einfach ist, an gute Bewerber zu kommen“, so Potega. Er ist davon überzeugt, dass der demografische Wandel samt Fachkräftemangel die Lage in absehbarer Zeit wieder verschärft und so auch die Zahl der ausgeschriebenen Stellen steigt.
Doch rekrutieren die Unternehmen mit solch einem Weitblick? Vivian Kleu, Sales Consultant bei dem HR-Software-Anbieter perbit Software, zufolge ist dies weitgehend nicht der Fall. „Viele Firmen sind wegen der wirtschaftspolitischen Lage verunsichert und können nicht einschätzen, wie diese sich entwickeln wird. Daher stellen sie sich personell erstmal nicht breiter auf, sondern warten ab“, sagt sie. Längere Vakanzzeiten für Jobs, wie es Jan Kirchner beobachtet, belegen die Einschätzung. Nach Kirchners Einschätzung wird zudem insbesondere bei anspruchsvollen Jobs wieder mehr auf Passung und Qualität geachtet. Dies erkläre unter anderem auch die derzeitige Zurückhaltung, Junioren ohne oder nur mit sehr wenig Joberfahrung einzustellen.
Recruiting Gen Z: Mit Jobsicherheit und Anerkennung punkten
Wie tickt die Gen Z? Die Medien zeichnen oft ein Bild von hoher Anspruchshaltung und geringer Leistungsbereitschaft junger Arbeitnehmender. Die Teilnehmenden am Round Table relativieren die Klischees und heben zum Teil andere Themen und Werte hervor, die für die Gen Z von Bedeutung sind.
Jobsicherheit steht dabei ganz oben. Kacper Potega führt in diesem Zusammenhang die Wechselbereitschaftsstudie 2024 von XING an. Diese führte das Job-Netzwerk mit dem Meinungsforschungsinstitut forsa bereits zum zwölften Mal durch, um die Arbeitszufriedenheit und Wechselbereitschaft von Beschäftigten sowie deren Wünsche an Arbeitgeber zu erheben. Der Untersuchung zufolge sagen 74 Prozent der Befragten im Alter zwischen 18 bis 29 Jahren, dass ein langfristig sicherer Job für sie bei der Wahl eines potenziellen Arbeitgebers entscheidend ist. Wichtig zudem: Flexibilität in Sachen Arbeitszeit und -ort sowie eine gute Work-Life-Balance.
Darauf weist Vivian Kleu hin. Sie ist mit 30 Jahren selbst nicht viel älter als die Gen Z und weiß: Entscheidend für junge Arbeitnehmende ist vor allem auch, Wertschätzung im Job zu erfahren. Aussagen wie „Das hast du gut gemacht, danke dafür!“ sind oft mehr wert als materielle Benefits. Das bedeutet wiederum nicht, dass Geld für junge Menschen insgesamt keine Rolle spielt. Laut Jan Kirchner ist ein hohes Gehalt ein wichtiges Motiv bei der Entscheidung für einen Arbeitgeber. Die Ergebnisse der XING-Studie spiegeln die Beobachtungen der Round-Table-Teilnehmenden: Für 61 Prozent der Befragten ist ein höheres Gehalt ein ausschlaggebender Grund, um den Job zu wechseln, 66 Prozent geben an, dass ihnen gutes Führungsverhalten bei einem potenziellen Arbeitgeber wichtig ist.
Zum Vergleich: Für die Generationen über den Millenials – wie Gen X oder Babyboomer – ist laut der XING Wechselbereitschaftsstudie 2023 ein guter Zusammenhalt im Job das wichtigste Kriterium, gefolgt vom Gehalt und einem sinnerfüllenden Job. Letzteres wird häufig auch mit der Gen Z in Verbindung gebracht. Auch sonst unterscheiden sich die Generationen nicht so sehr, wie häufig in den Medien dargestellt. „Recruiter tun somit gut daran, beim Personalmarketing und Employer Branding auf die jeweiligen Bedürfnisse der verschiedenen Gruppen am Arbeitsmarkt einzugehen als sich ausschließlich auf einzelne Generationen zu fokussieren“, lautet die Schlussfolgerung von Kacper Potega.
Niedrigschwellige Recruitinganreize: Vor- und Nachteile
Was hat die Brötchentüte einer Kölner Bäckerei mit dem Round Table zu tun? Round-Table-Moderatorin Christina Petrick-Löhr diente sie als Aufhänger, um mit den Teilnehmenden über niedrigschwellige Bewerbungsverfahren zu diskutieren.
Besagte Tüte ist nämlich mit einem QR-Code versehen, über den sich Lkw-Fahrer bei einem Logistikunternehmen bewerben können. „Was ist von solchen Aktionen sowie von anderen niedrigschwelligen Verfahren, bei denen zum Beispiel eine WhatsApp-Nachricht als Bewerbung ausreicht, zu halten?“, so die Frage von Petrick-Löhr. Laut Vivian Kleu machen sie für bestimmte Stellenangebote in manchen Branchen Sinn. „Für einen Kellner-Job auf Minijob-Basis ist eine Bewerbung per WhatsApp völlig in Ordnung. Für eine leitende Position wäre das jedoch nicht angemessen“, sagt sie. Zudem gäbe es viele Menschen, die auf Businessplattformen wie XING oder LinkedIn nicht aktiv seien. Über Aktionen wie die mit der Brötchentüte könnten Arbeitgeber manche von ihnen erreichen.
Nach Meinung von Wolfgang Achilles haben niedrigschwellige Recruitingverfahren einen entscheidenden Vorteil für Unternehmen: Es entsteht ein Kontakt. Das sei erstmal das Wichtigste. Somit würde auch ausreichen, zunächst nur den Namen und die E-Mail-Adresse der jeweiligen Person zu kennen, um sie kontaktieren zu können. „Alles andere ist überflüssig und meist sogar kontraproduktiv. Wird zum Beispiel ein Lebenslauf verlangt, erhöht sich die Abbruchquote“, sagt Achilles. Anhand eines kurzen Telefonats könne im nächsten Schritt eine persönliche Bindung zu der jeweiligen Person aufgebaut und gleichzeitig abgeklärt werden, ob sie für die Stelle geeignet ist und ob diese umgekehrt ihren Vorstellungen entspricht, führt er aus.
Um zu beurteilen, ob es zwischen Unternehmen und Talent wirklich passt, ist der direkte Kontakt für das Recruitingteam oftmals aussagekräftiger, als Bewerbungen mit beeindruckenden Lebensläufen, Anschreiben und Referenzen zu sichten“, sagt auch Kacper Potega. Ein gewisser Pragmatismus im Recruiting ist seiner Ansicht nach sinnvoll. Insgesamt sei man im deutschsprachigen Bereich noch zu sehr darauf ausgerichtet, Standardprozesse anzuwenden. Daran übt auch Jan Kirchner Kritik: „Gängige Recruitingsoftware bietet zu wenig Möglichkeiten, Bewerbungsprozesse an unterschiedliche Zielgruppen anzupassen.“ Über QR-Codes oder auch den WhatsApp-Kanal sei es möglich, weiteren Lebensrealitäten gerecht zu werden. Kirchner zufolge wäre es zielführend, die Ansätze zusammenzubringen und niedrigschwellige Bewerbungsverfahren in die Standardsysteme zu integrieren. Dies würde ermöglichen, das passende Verfahren je nach Zielgruppe auswählen zu können.
Candidate Experience: Probleme und Verbesserungspotenzial
Mit der Candidate Experience steht es im Bewerbungsprozess insgesamt nicht zum Besten – darin sind sich die Teilnehmenden am Round Table einig. Woran hakt es?
Nach Meinung von Jan Kirchner haben die meisten Personalverantwortlichen ihre Hausaufgaben im Fach Candidate Experience zwar gemacht. „Da, wo sie selbst Einfluss nehmen können, ist der Recruitingprozess im Sinne einer positiven Candidate Experience optimiert“, sagt er. Kommt das Bewerbermanagementsystem ins Spiel, hätten die Rekrutierenden jedoch nur noch begrenzt Einfluss auf den Prozess, was Probleme nach sich ziehe: „Durch die Standardisierungen, wie sie in vielfach genutzter Unternehmenssoftware vorzufinden sind, ist der Prozess nicht hinreichend auf die Bedürfnisse einzelner Bewerbergruppen ausgerichtet“, so Kirchner. „Dann müssen beispielsweise Auszubildende oder Hilfsarbeiter die gleichen Formulare ausfüllen wie berufserfahrene Spezialisten, was nicht selten im Abbruch des Bewerbungsprozesses endet.“
Vivian Kleu sieht in wenig nutzerfreundlichen Bewerbermanagementsystemen ebenfalls eine Hürde, nimmt in dem Zusammenhang aber auch die Rekrutierenden in die Pflicht. Diese müssten bei der Auswahl der Software intensiver hinschauen. „Oftmals lassen die HRler sich vom Marketing und einem modernen Frontend blenden und übersehen Mängel in der inhaltlichen Gestaltung und Bedienbarkeit“, erläutert Kleu. Sie bemängelt darüber hinaus den unbefriedigenden Umgang mit den Bewerbungsprozessen. So käme es häufig vor, dass Rekrutierende den aktuellen Stand einzelner Bewerbungen nicht wüssten, etwa, ob schon eine Rückmeldung erfolgt sei. „Solche Dinge stehen einer positiven Candidate Experience entgegen“, betont sie. „Ein abgelehnter Bewerber, der eine schlechte Erfahrung gemacht hat, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit anderen eher davon abraten, sich bei dem betreffenden Unternehmen zu bewerben, selbst wenn es sich um eine andere Abteilung oder einen anderen Standort handelt.“ Studien, meint Kleu, würden zeigen, dass Menschen eher von schlechten Erfahrungen berichten als von positiven.
Um eine bessere Candidate Experience zu erreichen, gibt es laut Wolfgang Achilles zahlreiche Verbesserungsmöglichkeiten. In den von Jobware durchgeführten Auditierungen von Recruitingprozessen seien insbesondere folgende Schwachpunkte bei den Bewerbungsverfahren häufig zutage getreten:
- Es wird nicht klar definiert, wonach genau gesucht wird.
- Bewerbende erhalten viel zu spät oder keine Rückmeldungen.
- Stellenanzeigen werden geschaltet, bevor der Fachbereich in Urlaub geht, was zu Verzögerungen führt.
- Bewerbungsprozesse dauern insgesamt zu lange. Zwischen dem ersten und dem zweiten Gespräch liegen oftmals mehrere Wochen.
- Bewerber aus Datenbanken werden gefragt, warum sie sich beworben haben, obwohl sie vom Recruiter kontaktiert wurden.
- Der Arbeitsvertrag enthält nicht die Vereinbarungen, die im Unternehmen besprochen wurden.
- Trotz 60 Prozent Online-Traffic haben rund die Hälfte der Unternehmen noch keine mobiloptimierten Bewerbungsprozesse.
- Bewerber werden abgeschreckt, weil sie sich im Bewerbungssystem des Unternehmens registrieren müssen.
Wie gelingt Recruiting kostengünstig?
In Zeiten der Inflation steht die Kostenfrage in fast allen Unternehmensbereichen vorne an. Ein Themenblock beim Round Table war daher der Frage gewidmet: Wie lässt sich Recruiting möglichst kostengünstig gestalten?
Um Antworten zu finden, stellt sich nach Meinung von Kacper Potega zunächst eine andere Frage: Wie effizient sind die einzelnen Recruitingmaßnahmen? Das heißt, dass Kosten und Aufwand ins Verhältnis zum Ergebnis zu setzen sind. „Oftmals ist im Unternehmen nicht hinreichend transparent, welche Ergebnisse bestimmte Maßnahmen erzielen“, kritisiert Potega.
Als Faustregel gilt laut Jan Kirchner, dass die günstigste Maßnahme jene ist, welche für die Zielgruppe am besten passt. „Ich muss wissen, wo und wie ich meine Adressaten am besten erreichen kann“, führt er aus – und rät daher, ein differenziertes Instrumentarium an der Hand zu haben sowie sich immer gut zu überlegen, welche der infrage kommenden Maßnahmen jeweils am besten greift. „Für die Ansprache von Engpasszielgruppen sollten Recruitingteams dabei auch Methoden wie Active Sourcing und Mitarbeiterempfehlungsprogramme nutzen“, sagt er.
Wolfgang Achilles empfiehlt darüber hinaus, genau darauf zu schauen, welche Skills einzukaufen sind. „Manche Fähigkeiten und Fertigkeiten schrauben die Lohnkosten in die Höhe. Daher kann es sinnvoll sein, sie nicht im Stellenprofil aufzunehmen, sondern den eingestellten Mitarbeitenden entsprechend zu schulen“, erläutert er. Auch sollte geprüft werden, ob die Skills bereits anderweitig im Unternehmen vorhanden seien und Aufgaben umverteilt werden könnten.
Eine Stellenanzeige ist nach der Erfahrung von Achilles in den Folgekosten im Übrigen meist günstiger als eine Direktansprache über eine Plattform. „Die Motivation für den Job ist erfahrungsgemäß stärker bei denjenigen, die sich von sich aus bewerben, als bei denen, die aktiv angesprochen werden“, erläutert er. Zudem würden Letztere in der Regel deutlich höhere Gehälter fordern.
Außerdem können mit einem Mitarbeiterempfehlungsprogramm unter Umständen sowohl Kosten für eine Stellenanzeige als auch für den Aufwand der Direktansprache gespart werden. Darauf macht Vivian Kleu aufmerksam. Allerdings gelte das nur für kleine Firmen. Denn bei ihnen müsse das „Mitarbeiter-werben-Mitarbeiter-Programm“ nicht aufwendig vermarktet und verwaltet werden.
Künstliche Intelligenz im Recruiting
Künstliche Intelligenz (KI) hält in jeglichen Arbeitsbereichen Einzug. Wie ist der Status quo beim Recruiting, welche Rolle spielen datengetriebenes Arbeiten und der Einsatz von KI bei der Einstellung bereits?
Von Nutzerseite ist ein starkes Interesse an der Technologie auf jeden Fall vorhanden, weiß Vivian Kleu: „Auf Künstlicher Intelligenz basierende Module wie das Erstellen von Stellenprofilen werden häufig genutzt.“ Sie erhalte darüber hinaus vermehrt Anfragen von Unternehmen, ob KI-Features in die HR-Software von perbit integriert werden können, um Stellenausschreibungen suchmaschinenoptimiert zu gestalten oder Matches zu erzeugen. Laut Kacper Potega können viele Unternehmen und Jobsuchende wegen einer oft fehlenden Datengrundlage teils jedoch noch nicht hinreichend von KI profitieren. „Nur wenn Menschen auf Jobplattformen zum Beispiel ihr Wunschgehalt oder auch ihre Vorlieben in Bezug auf die Arbeitsumgebung klar definieren können, werden auch die Jobs passender ausgespielt“, erläutert er. Schließlich sollte das Matching auf Basis eines Blicks nach vorne erfolgen – also dessen, was ein Kandidat oder eine Kandidatin werden möchte, und nicht auf Basis dessen, was er oder sie einmal war.
„Die Technologielandschaft ist noch zu rückständig und die Datengrundlage fehlt oftmals. Selbst wichtige Basics wie eine Workforce-Planung können meist nicht gemacht werden, weil die Qualität in den Datenbanken so mangelhaft ist, dass wesentliche Daten in den Bewerbermanagementsystemen nicht zur Verfügung stehen“, bestätigt Jan Kirchner. Er weist zudem darauf hin, dass meist nicht hinreichend zwischen den verschiedenen Arten der Technologie unterschieden werde. Dies habe unter anderem zur Folge, dass viele im Recruitingbereich nicht wüssten, was KI konkret leisten kann, und falsche Vorstellungen kursieren.
Generative AI gut für Stellenanzeigen geeignet
Machine Learning, bei dem Daten anhand von Algorithmen analysiert werden und KI mittels der Daten Entscheidungen trifft, ist bereits seit Jahren ein Thema – etwa, um Jobs zu klassifizieren, stellt Kirchner klar. Dies sei aber eine Sache der Softwareanbieter. Generative AI-Lösungen wie Chat GPT hingegen würden auf Basis des maschinellen Lernens optimierte Inhalte erstellen. Unternehmen könnten sie zum Beispiel nutzen, um Stellenanzeigen zu verbessern.
Wolfgang Achilles berichtet in diesem Zusammenhang von spannenden Entwicklungen: „Wenn man die KI mit Informationen zur Zielgruppe füttert, ihr eine Persona gibt und sie dann bittet, eine Stellenanzeige zielgruppengerecht umzuschreiben, ist die Maschine in der Lage, Textvorschläge zu machen, die den Menschen, die erreicht werden sollen, sehr gut entsprechen“, sagt er. Zwecks Platzierung der Anzeige könne die KI zudem befragt werden, wo die Zielgruppe anzutreffen sei, welche Zeitschriften sie lese et cetera. „Auf diesem Gebiet ist KI richtig mächtig“, lobt Achilles, der dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz bei der Personalauswahl insgesamt eher skeptisch gegenübersteht.
KI ist Hochrisiko-Anwendung für HR-Bereich
Geht es darum, künstliche Intelligenz mit Daten zu versorgen, ist grundsätzlich Vorsicht geboten. Denn wer die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) oder das Urheberrecht missachtet, so wurde beim Round Table thematisiert, riskiert rechtliche Konsequenzen. Auch generell ist der Einsatz von KI im HR-Bereich eine sensible Angelegenheit. „Alles, was Personalauswahlentscheidungen betrifft, wird von der EU als Hochrisikoanwendung eingestuft“, erklärt Jan Kirchner. Dies bedeutet auch, dass die EU bestimmte KI-Anwendungen im HR-Bereich nur in engen Grenzen zulässt, um das Risiko zu verringern.
Menschliche Entscheidungen bleiben wichtig
Und inwiefern ist KI eine Gefahr für das Tätigkeitsfeld von Rekrutierenden? Viele von ihnen haben Angst davor, dass ihr Job in Zukunft durch KI ersetzt werden kann, thematisiert Wolfgang Achilles beim Round Table. Dass die Befürchtungen Realität werden, hält innerhalb der Round-Table-Runde jedoch niemand für wahrscheinlich. „Recruiting ist sowohl für Unternehmen als auch für Kandidaten immer noch ein komplexer und emotionaler Prozess. KI kann hier helfen, Prozesse zu vereinfachen und zu beschleunigen, sodass Recruiter und Recruiterinnen sich auf den persönlichen Kontakt mit Kandidaten konzentrieren können. Insofern ist die Anwendung von KI bei der Stellenbesetzung eher ein Gewinn als eine Gefahr,“ sagt Kacper Potega. Nach Ansicht von Vivian Kleu werden Bauchentscheidungen bei der Personalauswahl zudem immer ein wichtiger Part bleiben. „KI kann bei der Entscheidung für oder gegen einen Kandidaten oder eine Kandidatin immer nur unterstützen“, ist sie überzeugt. Ein weiterer wichtiger Aspekt: Auch den Bewerbenden sei der wahre menschliche Kontakt im Bewerbungsprozess wichtig. „Wer will schon einem Avatar im Bewerbungsgespräch gegenübersitzen?“, schließt Kleu.
Info
Das Wichtigste in Kürze
- Die wirtschaftliche Lage ist derzeit unsicher, doch der Fachkräftemangel bleibt. Unternehmen können die Chance nutzen, um jetzt strategisch Talente zu akquirieren.
- Wer Talente aus verschiedenen Generationen gewinnen will, sollte sich am Zeitgeist statt an Zielgruppen orientieren.
- Standardisierungen in Bewerbermanagementsystemen sowie zahlreiche Schwachpunkte in den Bewerbungsprozessen erschweren eine positive Candidate Experience.
- Um KI gut für das Recruiting nutzen zu können, fehlt es noch an einer qualitativ hochwertigen Datengrundlage.
- Um Stellenanzeigen zielgruppengerecht zu verfassen, kann generative AI wiederum bereits jetzt genutzt werden.
- Perspektivisch wird KI Rekrutierende nicht ersetzen, sondern unterstützen.
Trendprognosen und Empfehlungen
Die Diskussion am Round Table zeigt: Recruiting steht vor vielfältigen Entwicklungen und Herausforderungen. Welche Trends werden die Zukunft der Personalauswahl am stärksten prägen? Und welche Ansätze und Strategien helfen dabei, das Recruiting auf das nächste Level zu heben?
Jan Kirchner:
„Das Recruiting in den Unternehmen muss sich stärker auf einer strategischen Ebene entwickeln. So sollten sie ihre Talente-Akquisition langfristig planen und sich von typischen, jährlich basierten Budgetzyklen lösen. Größere Organisationen, die mehr als 20 Personen pro Jahr einstellen, brauchen in diesem Zusammenhang Experten für Active Sourcing, aber auch für Personalmarketing und für Employer Branding. Auch wenn viele bereits im Active Sourcing tätig sind, fehlt es ihnen oftmals noch an internen Kapazitäten und Kompetenzen im Unternehmen, um die Möglichkeiten vollständig auszuschöpfen. Darüber hinaus ist es wichtig, eine geeignete Datenbasis für ihre Prozesse und den Recruitingtrichter zu schaffen, um strategisch vorgehen zu können und in Zukunft professionell zu rekrutieren.“
Kacper Potega:
„Mitarbeitende, die im Bereich Recruiting tätig sind, kann ich nur ans Herz legen, sich auch außerhalb dieser Sphäre zu bewegen. Sinnvoll ist zum Beispiel, eine E-Commerce-Konferenz zu besuchen und sich mit Menschen aus diesem Bereich auszutauschen. Meiner Ansicht nach ist der E-Commerce-Sektor in Deutschland, insbesondere im Hinblick auf Digitalisierung, was die Qualität der Werkzeuge und Skills angeht, sowie beim Einsatz von Künstlicher Intelligenz dem HR-Bereich nämlich ein gutes Stück voraus. Ergo ist hier gut zu erkennen, in welche Richtung die Entwicklungen gehen. Prozesse in einem Onlineshop ähneln zudem oft Bewerbungsprozessen. Die Empfehlung eines passenden Schuhs beispielsweise lässt sich mit dem Jobmatching vergleichen. Solche Parallelen bieten wertvolle Lernerfahrungen.“
Dr. Wolfgang Achilles:
„Für mich ist die demografische Entwicklung der wichtigste Faktor im Recruiting. Unabhängig von der Konjunktur werden in diesem Jahr wahrscheinlich noch mehr Menschen als zuvor in Rente gehen. Dies wird zur Folge haben, dass der Arbeitsmarkt wieder anzieht und der Wettbewerb um Arbeitskräfte nochmals intensiver und härter wird. Wir werden kleine und mittelständische Betriebe schließen sehen, weil sie keine Nachfolge finden oder ihnen nicht ausreichend Personal zur Verfügung steht. Letztlich wird es auch große Unternehmen treffen, die an vielen Stellen auf die Leistungen der mittelständischen Betriebe angewiesen sind.
Die Lösung besteht darin, junge Menschen in den Arbeitsmarkt zu integrieren – sei es direkt von der Schule oder der Hochschule. Auch Menschen mit Migrationshintergrund gilt es für die Unternehmen zu integrieren. Dies wird eine große Herausforderung sein, denn man wird Abstriche machen müssen, was die Skills angeht, in völlig neue Situationen geraten und sich so neu aufstellen müssen. Das wiederum erfordert große Flexibilität.“
Vivian Kleu:
„Unternehmen müssen das Thema ‚Wertschätzung im Job‘ dringend intern vorantreiben. Man hört immer wieder, dass Menschen ihren Job kündigen, weil ihre Führungskraft oder der Geschäftsführer ihre Arbeit nicht richtig wertgeschätzt hat. So etwas kursiert auch in den sozialen Medien und schadet dem Ruf des jeweiligen Unternehmens als Arbeitgeber. Das Thema Wertschätzung sollte daher genauso ernst genommen werden wie zum Beispiel flexible Arbeitszeiten und Work- Life-Balance.“
