Personalwirtschaft: Herr Haas, warum ist Selbstführung derzeit in aller Munde?
Oliver Haas: Wir befinden uns in einem Umschwung von der Industrie- in die Wissensgesellschaft. In Letzterer weiß der Mitarbeiter erstmals mehr als die Chefin. Er muss aber auch das Rückgrat haben, dieses Wissen zu teilen und sich in einen wertschätzenden Streit zu begeben. Gleichzeitig wird derzeit viel nach Eigenverantwortung und agilem Arbeiten gerufen. Damit Mitarbeitende ihr Wissen mehr teilen und verstärkt in den Lead gehen, ist Selbstführung nötig.
Was genau ist Selbstführung?
Im Zentrum der Führung steht die Frage: Wo soll es hingehen? Um diesem Ziel gerecht zu werden, bedarf es bestimmter Beziehungen – der Beziehung zu sich selbst, aber auch der Beziehung zu anderen. Für Selbstführung müssen wir uns folglich vor allem um die Beziehung mit uns selbst kümmern und diese nach außen aufrecht halten.
Welche Rolle spielt die Übernahme von Verantwortung dabei?
Eine essenzielle. Mit Verantwortung ist gemeint – wie das Wort schon verrät – selbst zu antworten. Nur jemand, der sich seiner selbst bewusst ist, kann Antworten geben.
Wie können Führungskraft oder HR den Mitarbeitenden dabei helfen, sich selbst im Arbeitskontext bewusst zu werden?
Sie können die Mitarbeitenden dazu ermutigen, sich immer mal wieder aus dem alltäglichen Hamsterrad zu begeben und ihnen Raum für stille Momente geben. In der Stille können sich die Mitarbeitenden fragen: Wie geht es mir eigentlich wirklich? Was für eine Person möchte ich sein? Was würde ich für eine Rede an meinem 100. Geburtstag halten, um mein Leben zu beschreiben? Was treibt mich an? Indem sie diese Fragen beantworten, finden Mitarbeitende ihren inneren Motor und wissen, wo sie langfristig hin möchten.
Das sind keine Fragen, die leicht zu beantworten sind.
Das stimmt. Eine Hilfestellung kann es sein, sich an den zwei Grundbedürfnissen von Menschen zu orientieren, die der Hirnforscher Gerhard Hüther und die Hebamme Inge Krens identifiziert haben: Verbundenheit und Wachstum. Diese Erfahrungen haben wir als Menschen auch im Mutterleib gemacht. Wir waren über die Nabelschnur mit der Mutter verbunden, sind ständig gewachsen und haben immer mehr geschafft. Wenn wir beide Grundbedürfnisse gleichzeitig stillen, sind wir glücklich. Es geht also auch darum sich zu fragen, wem wollen wir verbunden sein und in welchen Bereichen wollen wir über uns hinauswachsen.
Und nur weil Mitarbeitende wissen, was sie wollen, führen sie sich selbst?
Es ist der erste Schritt zur Selbstführung. Dann muss der Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin aber noch für sich selbst und das, wofür er oder sie stehen möchte, eintreten und gegenüber den Kolleginnen und Kollegen, aber auch der Führungskraft Rückgrat beweisen.
Wie kann die Führungskraft fördern, dass die Mitarbeitenden für ihre eigenen Ansichten eintreten?
Sie kann anfangen, Fragen der Teammitglieder nicht mehr zu beantworten. Stattdessen kann sie so etwas sagen wie: Spannende Frage, das weiß ich jetzt auch nicht. Sie kann die eigene Meinung zunächst zurückhalten. Damit lädt sie die Mitarbeitenden ein Stück weit dazu ein, sich selbst zu kümmern, selbst nachzudenken und ihre Ansichten zu teilen. Das verlangt allerdings von der Führungskraft zwei Dinge.
Und diese wären?
Sie muss aushalten, dass ihr Ego verletzt wird. Es hat sich vorher gestreichelt gefühlt, indem die Führungskraft selbst Probleme gelöst hat. Der Leader oder die Leaderin muss auch aushalten, dass Mitarbeitende zunächst Fehler machen und die Aufgabe nicht so gut erledigen werden, wie sie selbst es aufgrund reichlicher Erfahrung getan hätten. Die Führungskraft muss zum Coach werden, der seinen Mitarbeitenden auch mal Zeit lässt.
Darf die Führungskraft die Beschäftigten als Coach gar nicht unterstützen?
Doch, das darf und sollte sie. Schließlich muss sie die Beschäftigten in der Selbstführung schulen. Die Führungskraft lässt als Coach keinen hängen. Trotzdem muss die Devise sein: Du musst das machen. Du kannst fragen und ich helfe dir, aber machen musst du es.
Was ist, wenn ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin sich nicht selbst führen möchte?
Die Führungskraft kann niemanden dazu zwingen, in die Selbstführung zu gehen. Wie wir gesehen haben, ist das schließlich etwas Persönliches. Sie sollte den Mitarbeitenden aber Lust darauf machen, in die Selbstführung zu gehen. Zum Beispiel, indem sie zeigt, dass es Spaß macht, Entscheidungen zu treffen und sich einzubringen. Gleichzeitig geht es auch darum, die Erwartungen an die Führungskraft runterzuschrauben. Im Wort Erwartung steckt bereits das Warten. Wer das Warten darauf, dass die Führungskraft den Weg leitet, an der Bürotür abgibt, geht in die Selbstführung.
Wie kann das Team in eine gemeinsame Richtung laufen, wenn jeder Mitarbeiter oder jede Mitarbeiterin stärker nach dem geht, was sie oder er für richtig hält?
Wenn einzelne Mitarbeitende unterschiedlicher Meinung sind, müssen wertschätzende Diskussionen erlaubt werden. Dabei steht Effektivität im Zentrum und nicht Effizienz. Alle fragen sich gemeinsam im Team, warum etwas gemacht wird und was der richtige Weg ist. Im Unternehmen müssen die Bedürfnisse der einzelnen Mitarbeitenden verhandelt werden.
Was meinen Sie damit?
Die meisten von uns reden in Strategien und geben das wahre Selbst nicht wirklich zu erkennen. Eine Strategie ist ein Weg, um seine Bedürfnisse zu befriedigen. So spricht beispielsweise ein Kollege davon, dass er ein neues Event veranstalten möchte. Seine Kollegin möchte das nicht tun, weil es zu teuer ist. Das ist der Konflikt auf der Strategieebene. Dahinter steckt bei dem Kollegen allerdings das Bedürfnis, mit anderen Menschen in Kontakt zu sein. Die Kollegin möchte eigentlich das vorhandene Budget lieber in Webinare stecken, weil sie die Weiterbildung im Betrieb fördern will. Sehen Sie, wie die beiden auf der Bedürfnisebene leichter einen Kompromiss finden können als auf der Strategieebene?
Das heißt, die Mitarbeitenden müssen ihre Bedürfnisse kennen, offen kommunizieren und gutes Beziehungsmanagement betreiben, um ihre Ziele zu erreichen?
Genau. So entsteht im Übrigen auch eine authentische Unternehmenskultur. Denn im Unternehmen gibt es Menschen, die das miteinbringen oder machen, was ihnen als Mensch wichtig ist. Damit haben Sie ein Unternehmen, in dem die Mitarbeitende zufriedener sind und die Belegschaft keinen braucht, der oder die ihr für ihre Arbeit auf die Schulter klopft. Sie machen die Aufgaben einfach gern und haben keine Angst davor, jemandem – auch nicht der Führungskraft – zu widersprechen.
Info
Oliver Haas ist Begründer und Initiator von Corporate Happiness und Das Neue Führen und berät Unternehmen hinsichtlich beider Konzepte. Früher hat er als Controller und Wirtschaftsprofessor gearbeitet.
Lena Onderka ist redaktionell verantwortlich für den Bereich Employee Experience & Retention – wozu zum Beispiel auch die Themen BGM und Mitarbeiterbefragung gehören. Auch Themen aus den Bereichen Recruiting, Employer Branding und Diversity betreut sie. Zudem ist sie redaktionelle Ansprechpartnerin für den Deutschen Human Resources Summit.